Ich muss zugeben, dass der SoundWords-Artikel tatsächlich einige Schwachpunkte in Eberts Arbeit aufdeckt. So ist z.B. die Behauptung, Darby habe dazu aufgefordert, das „große Haus“ zu verlassen, ganz offensichtlich abwegig und aus der zitierten Darby-Stelle nicht ableitbar.
Dass Eberts Darby-Bild sich vor allem auf das Buch von Broadbent gründet, kann man natürlich kritisieren, aber man wird dem Autor wohl zugutehalten können, dass er das nicht aus tendenziöser Absicht getan hat, sondern guten Glaubens. Der Artikel erhebt ja keinen wissenschaftlichen Anspruch, und das Buch von Broadbent steht nicht im Ruf übermäßiger historischer Unzuverlässigkeit (jedenfalls ist mir keine veröffentlichte Kritik daran bekannt).
Manche Einschätzungen Eberts dürften auch darauf zurückzuführen sein, dass er nicht immer zwischen Darbys Lehre und landläufiger „exklusiver“ Praxis unterscheidet. Wenn er z.B. aus dem Darby-Zitat im
Botschafter 1859 den Schluss zieht:
Es gab viele Dinge, die man als „Übel“ oder „Böse“ bezeichnen konnte. In diesem Zusammenhang meint es alle benannten christlichen Kirchen und Gemeinden und die Menschen, die in ihnen verkehren,
geht er vielleicht über Darbys unmittelbare Aussageabsicht hinaus, gibt aber doch eigentlich gängiges „exklusives“ Denken wieder — haben die „geschlossenen Brüder“ nicht für alle ihnen unschriftgemäß erscheinenden Praktiken den Ausdruck „kirchlich Böses“ erfunden? (Wenn man diesen Ausdruck googelt, findet man außer einem
katholischen Buch von 1835 ausschließlich Verweise auf die „geschlossenen Brüder“!) So schrieb Kelly z.B. in
Die Lehre des Christus und der Bethesdaismus:
Von Anfang an haben die sogenannten „Brüder“ gezeigt, dass sie kirchlich Böses nicht auf die leichte Schulter nehmen, indem sie sich von allen unschriftgemäßen Gruppierungen trennten, auch wenn Christen dazugehörten.
Da aus Sicht der „geschlossenen Brüder“
alle anderen Gruppierungen unschriftgemäß sind (andernfalls müsste man sich ja nicht von ihnen trennen), ist Eberts Gleichsetzung von „benannten christlichen Kirchen und Gemeinden“ mit [kirchlich] „Bösem“ doch eigentlich völlig berechtigt, auch wenn sie sich in dem angeführten Darby-Zitat nicht wortwörtlich finden mag.
Interessant an der SoundWords-Argumentation finde ich die starke Betonung des örtlichen Aspekts:
Bruder Ebert kann den Verfall nur dann weiterhin leugnen, wenn er annimmt — wie viele andere das tun —, dass jede Gruppe, die sich nach „bibeltreu“ genannten Kriterien versammelt, eine Kirche/Gemeinde nach den Gedanken der Schrift ist. Doch das ist keineswegs der Fall. Ein Zusammenkommen von Gläubigen in einer bestimmten Stadt — und sei dieses Zusammenkommen noch so bibeltreu — ist nicht die Gemeinde Gottes in dieser Stadt. Die Gemeinde Gottes an diesem Ort umfasst nämlich alle Gläubigen des Ortes, mögen sie sich zu diesem noch so bibeltreuen Zusammenkommen halten oder nicht. Zur Gemeinde Gottes an diesem Ort gehören also auch die Gläubigen aus der Freikirche A und der Hausgemeinde B und der evangelischen Kirche und sogar aus der katholischen Kirche.
Und später:
Nun, ein Ältester wurde jemand immer in Bezug auf eine Stadt („in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest“; Tit 1,5), nicht in Bezug auf eine Splitterpartei der Christenheit. Ein von Paulus eingesetzter offizieller Ältester hatte Autorität in einer bestimmten Stadt, und zwar für alle Gläubigen an diesem Ort. Doch wenn heutzutage ein Ältester offiziell eingesetzt würde, dann wird er lediglich von einem kleinen Teil der gesamten Gemeinde Gottes in dieser Stadt, die nach dem Wort Gottes aus allen wahren Gläubigen an diesem Ort besteht, anerkannt.
Das ist natürlich bekannte „Brüder“-Lehre, aber ich frage mich schon seit längerem, ob die Realität insbesondere in Gegenden mit geringerer „Versammlungsdichte“ an diesem Ideal nicht vollkommen vorbeigeht. Ich nehme mal als Beispiel meine Heimatgemeinde: Wir versammeln uns in Allendorf, einem dörflichen Vorort von Gießen — aber nicht weil wir alle dort wohnen, sondern weil in diesem Dorf vor 25 Jahren zufälligerweise eine ehemalige Gaststätte zum Verkauf stand, die den Geschwistern, die zuvor in der Gießener Kernstadt und danach im Stadtteil Kleinlinden zusammengekomen waren, als Versammlungsraum geeignet erschien. Tatsächlich wohnt bis heute außer der „Hausmeisterfamilie“
kein einziges Glied der Gemeinde direkt in Allendorf, und auch nur wenige wohnen in anderen Stadtteilen Gießens — fast alle kommen aus Nachbarorten, vor allem aus dem südlichen Lahn-Dill-Kreis. Das war übrigens auch schon so, als die Gemeinde noch im „geschlossenen“ Adressbuch stand, und ich denke, wir sind da kein Einzelfall — in Regionen mit geringer „Versammlungsdichte“ dürfte es fast überall ähnlich aussehen. Aber welchen Sinn hat es dann überhaupt noch, von der „Versammlung Gottes in Allendorf“ zu reden, die wir angeblich „sichtbar darstellen“? Ich persönlich fühle mich der (unsichtbaren) „Versammlung Gottes in Allendorf“ jedenfalls nicht zugehörig, weil ich mit dem Ort Allendorf überhaupt nichts zu tun habe, außer dass ich zweimal in der Woche dort hinfahre, weil die Gemeinde, mit der ich mich identifiziere, eben zufälligerweise dort ihren Standort hat. Kurz und gut: Die gängige Praxis, größere Entfernungen bis zum nächsten „Zusammenkommen auf schriftgemäßer Grundlage“ zurückzulegen (die Familie mit dem weitesten Weg bei uns wohnt fast 60 km entfernt!), macht die „lokale“ Argumentation, wie man sie in den Schriften der „Brüder“ häufig findet, m.E. völlig hinfällig.
Hinzu kommt natürlich noch das ganz banale Problem, dass nach dieser Argumentation eigentlich auch alle kommunalen Gebietsveränderungen (Eingemeindungen, Zusammenschlüsse usw.) Auswirkungen auf das christliche Zusammenkommen haben müssten. Ich zitiere dazu mal aus einem Artikel von Hanswalter Giesekus, der in Heft 1/2016 von
Zeit & Schrift erscheinen soll:
die Behauptung, dass eine biblische Gemeinde nur jeweils einmal an ein und demselben politischen Ort dargestellt werden kann, [ist] in sich selbst sinnlos, denn „politische Gemeinde“, ob Stadt oder Dorf, ist keine von der Zeit unabhängige Größe, sondern vielfachen Veränderungen unterworfen. So wurden doch in allen politischen Bereichen vor allem seit Beginn des industriellen Zeitalters ständig zuvor selbständige Gemeinden miteinander zu Großstädten verbunden.*
* Um ein anschauliches Beispiel anzuführen, sei erwähnt, dass die alte Hansestadt Dortmund um etwa 1830 auf einen relativ kleinen, von Wällen umschlossenen Bezirk eingeschränkt und ringsherum von 70 selbständigen Dörfern umschlossen war, dass 30 Jahre später diese aber allesamt „eingemeindet“ waren, mehr noch, dass etwa 100 Jahre später sogar noch die vormalige Kreisstadt Hörde nebst weiteren Gebieten der Großstadt Dortmund einverleibt wurden. Noch krasser: Die Stadt Wuppertal zerfiel bis nach dem Ersten Weltkrieg u.a. in die Gemeinden Wichlinghausen, Barmen, Elberfeld und Vohwinkel, und in jeder dieser politischen Einheiten gab es neben zahlreichen anderen auch „Brüdergemeinden“. Hatten diese infolge der Eingemeindungen ihre Legitimität als örtliche Gemeinde eingebüßt? Sie bestehen verständlicherweise unverändert weiter!
Ein wiederum anderes Beispiel für die Unrealisierbarkeit der Konstruktion „nur eine Gemeinde an einem politischen Ort“ stellt die Stadt London dar, wo zeitweilig allein die „Brüder“ an 26 verschiedenen Orten zusammenkamen. Das Bemühen, die Zusammengehörigkeit zu einer Gemeinde durch eine übergreifende monatliche Konferenz von einzelnen Brüdern ans den verschiedenen Stadtteilen zu bekunden, mag in gleichem Maß als Zeichen eines hilflosen Versuchs wie auch des prinzipiellen Unvermögens beurteilt werden, bei dieser in sich selbst widerspruchsvollen Behauptung gleichsam die „Quadratur des Kreises“ zu lösen.
Zum Zusammenhang zwischen dem „örtlichen Argument“ und der Benennung von Ältesten schreibt Bruder Giesekus in Teil 3 seines Artikels (erscheint in
Z & S 3/2016):
[Es ist] einer Gemeinde überlassen, anhand der oben genannten Kriterien (vgl. 1Tim 3,1-7; Tit 1,6-9) zu beurteilen und anzuerkennen, wer durch den Heiligen Geist zu einem solchen Amt berufen ist. Dieser muss als solcher nicht anonym bleiben, sondern sollte durchaus als Ältester benannt und durch öffentliche Fürbitte — vielleicht mit Handauflegung — in seiner Gemeinde vorgestellt werden.*
* Dem von einigen geäußerten Einwand, dass die Zersplitterung des Volkes Gottes an ein und demselben politischen Ort in verschiedene „Benennungen“ eine solche Kenntlichmachung unmöglich mache, ist der Boden entzogen, wenn man den im ersten Teil dieses Beitrags angewiesenen Unterschied zwischen dem Versammlungsort einer Gemeinde und einer politischen Örtlichkeit beachtet.