"Wir singen" umfasst 18 Lieder, davon 12 mit Noten. Die Lieder mit Noten sind (ohne Quellenangabe) aus anderen Büchern faksimiliert; "Paß auf" erscheint als Nr. 15:
"Sing mit!" enthält 83 Lieder, durchweg ohne Noten. Im Inhaltsverzeichnis wird auf sechs Liederbücher verwiesen, in denen Melodien zu den Liedern zu finden seien; zu "Paß auf, kleines Auge" (Lied Nr. 12) heißt es:
- Sf 20, Ws I 57
- Singet froh, ihr Kinder alle. Liederbuch für Familie und Gemeinde. Berlin/DDR (Evangelische Versandbuchhandlung Otto Ekelmann) 1968. — Westdeutscher Nachdruck: Singet froh ihr Kinder alle. Liederbuch für Sonntagsschule und Familie. Wuppertal (R. Brockhaus) 1969.
Etwas schwieriger zu identifizieren ist das Liederbuch mit dem Allerweltstitel "Wir singen". Das einzige in Frage kommende zweibändige Werk, das ich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek finden konnte, ist folgendes:
- Wir singen. Sing- und Musizierbuch für Volksschulen. Hrsg. von Hanns Berekoven in Gemeinschaft mit Theo Rüttgers und Eberhard Werdin. 2 Bände. Düsseldorf (Schwann) ²1956.
Aus einem dieser beiden Liederbücher – vermutlich aus "Singet froh[,] ihr Kinder alle" – dürften die Noten in Hanns Winterhoffs älterem Liederheft stammen. Interessant ist nun der Hinweis oben links, dort wo bei anderen Liedern der Textdichter steht:
1. Mose 16,13
Du, Gott, siehest mich
Das Lied soll also, wenn nicht gerade eine Vertonung von 1Mo 16,13, so doch zumindest durch diesen Vers angeregt sein. Das ist aus zwei Gründen aufschlussreich:
(1) Der Wortlaut "Du, Gott, siehest mich" entstammt der Lutherbibel; in der (damaligen) Elberfelder Bibel heißt es demgegenüber: "Du bist ein Gott, der sich schauen läßt!" [Fußnote: O. der mich sieht; W. des Schauens]. Wenn das Lied aus der Brüderbewegung stammen würde, hätte man als Aufhänger wohl kaum einen Vers aus der Lutherbibel gewählt.
(2) Die Aussage "Du, Gott, siehest mich" (oder "Du bist ein Gott, der mich sieht") ist in 1Mo 16,13 keineswegs angsteinflößend, sondern im Gegenteil tröstlich gemeint: Hagar sagt dies, nachdem der Engel des HERRN sie auf ihrer Flucht vor Sarai gefunden und ihr großen Segen verheißen hat. Wenn der Liederdichter oder Herausgeber diese Stelle im Kopf hatte, spricht das eindeutig gegen die Hypothese, das Lied verfolge die Absicht, Kindern Angst zu machen.
Weitere Internetrecherchen ergaben, dass das Lied offenbar gar kein deutschsprachiges Original ist, sondern aus dem Englischen übersetzt wurde. Die englische Version nun hat überhaupt nichts Furchterregendes mehr:
O be careful little eyes what you see
O be careful little eyes what you see
There's a Father up above
And He's looking down in love
So, be careful little eyes what you see
"Be careful" klingt viel freundlicher als "Paß auf", und die "Liebe" des Vaters fehlt in der gängigen deutschen Version völlig. Das muss indessen keine böse Absicht der Übersetzer sein, sondern dürfte eher daran liegen, dass eine genaue Übersetzung sich nicht im Metrum unterbringen ließ. Immerhin gibt es aber auch noch eine zweite deutsche Variante, die neulich von FeG-Aussteiger Frithjof Rompf in der "Süddeutschen Zeitung" zitiert wurde und die Liebe des Vaters doch noch in den Text einbaut:
Pass auf, kleines Auge, was du siehst!
Pass auf, kleines Auge, was du siehst!
Denn der Vater im Himmel schaut immer auf dich,
denn der Vater im Himmel hat dich lieb.
Mir ist zwar nicht klar, wie die dritte Zeile auf die bekannte Melodie passen soll, aber der Text ist so auch auf zahlreichen Internetseiten zu finden. Dass selbst diese Version noch als angsteinflößend bezeichnet wird, scheint mir noch weniger nachvollziehbar zu sein.
Wenn ich an die Kinderstunden mit Hanns Winterhoff Ende der 1970er Jahre zurückdenke, kann ich jedenfalls die Behauptung, mit dem Lied "Pass auf, kleines Auge" würde Kindern Angst gemacht, in keiner Weise bestätigen. Hanns Winterhoff war ein Mann, der ausgezeichnet mit Kindern umgehen konnte: freundlich und witzig, spannend und anschaulich – für mich gehörten die alljährlichen Kinderstunden im Bad Endbacher Kurhaus immer zu den Höhepunkten des Jahres!
Der aus den Winterhoff'schen Liederheften bekannte Wortlaut findet sich übrigens auch in folgendem etwa zur selben Zeit erschienenen, dem landeskirchlichen Pietismus zuzuordnenden Buch:
- "Mit frohem Klang stimmt ein zu Gottes Ehre". Kinderliederbuch für Sonntagsschule + Familie — für Kinderchor + Freizeiten. Im Auftrag der Sonntagsschulen im Evangelischen Gemeinschaftsverband Siegerland und Nachbargebiete hrsg. vom Liederbuch-Arbeitskreis im Verlag A. Michel & Comp. Schriftenmissionsverlag GmbH. Siegen 1977.