von schneid9 am Fr 22. Okt 2010, 17:58
Aber sind wirklich die Melodien das Problem? Die könnte man doch mit relativ wenig Aufwand "modernisieren" (z.B. ein paar Synkopen einbauen ...). Was die jüngeren Leute stört, sind doch eigentlich vor allem die Texte, die sprachlich und z.T. auch inhaltlich sehr weit von der heutigen Lebenswelt entfernt sind. In den Geistlichen Liedern wimmelt es doch nur so von Archaismen wie "Antlitz", "Huld", "Pilgerlauf, "Pilgerpfad", "Schäflein", "Schar", "Schmach", "Wonne", "erquicken", "frohlocken", "harren", "jauchzen", "wallen", "wandeln", "ward", "sel'ge", "allezeit", "ewiglich", "hienieden", "immerdar", und thematisch ist so oft von Wüste, Kampf, Not, Leid, Schmerz, Schmach, Mühe, Trübsal, Kummer, Tränen und Beschwerde die Rede, dass man sich fragt, wie die Dichter es überhaupt hier ausgehalten haben. Natürlich ist es "droben" weit besser, das wird niemand bestreiten; aber zu sagen, dass es "hier auf dieser armen Erde ... NUR Mühe, NUR Beschwerde" gibt (Lied 96) oder dass man hier "NUR Kampf und Leid" sieht (Lied 104), ist doch eigentlich maßlos übertrieben und höchstens einem todkranken Bettlägerigen abzunehmen. Aufrichtig singen kann man so etwas heute kaum noch (falls man es jemals konnte - auch das Leben im 19. Jahrhundert dürfte nicht NUR fürchterlich gewesen sein). Im Grunde handelt es sich wohl um ein literarisches Stilmittel: Um den Himmel, nach dem man sich (durchaus mit Recht!) sehnte, so herrlich wie möglich darzustellen, musste man die Erde eben so schlecht wie möglich machen. Neutestamentliche Belegstellen für solche romantisch-sentimentalen Formulierungen zu finden dürfte allerdings schwierig sein - wie ja überhaupt die ganze Wüstenmetaphorik keine neutestamentliche Grundlage hat.
Die oben verlinkten neuen Melodien haben mich übrigens nur teilweise überzeugt. Warum sollten Loblieder wie "Wo ist ein solcher Gott wie Du" oder "Ach, wer kann Dich würdig loben" in Molltonarten stehen? (Bei letzterem Lied haben mich außerdem die vielen überflüssigen "h"s des Sängers genervt: "Se-he-he-he-he-he-helig, wer Dich pra-heist und ehrt" ...) Am gelungensten fand ich "Nichts, Herr Jesus, finde ich hienieden". Aber das ist natürlich Geschmackssache.
Michael Schneider