Thomas Schirrmacher über die Brüderbewegung

Bücher und Medien zur Brüderbewegung

Thomas Schirrmacher über die Brüderbewegung

Beitragvon schneid9 am Do 16. Okt 2008, 18:02

Der reformierte Theologe Prof. Dr. mult. Thomas Schirrmacher gehört zu den produktivsten christlichen Autoren in Deutschland. Angesichts der Menge und der thematischen Bandbreite seiner Veröffentlichungen muss man sich allerdings fragen, ob er sich wirklich zu allen Themen gleichermaßen kompetent äußern kann. Die Lektüre des Artikels über die Brüderbewegung in seiner Konfessionskunde (auch im Harenberg Lexikon der Religionen enthalten) lässt da erhebliche Zweifel aufkommen. Es wimmelt hier geradezu von Fehlern und Ungenauigkeiten:

Brüderbewegung
1826 vor allem von dem ehemaligen anglikanischen irischen Priester John Nelson Darby (1800-1882) in Plymouth gegründete Bewegung (deswegen von anderen auch ‚Plymouth-Brüder’ oder ‚Darbisten’ genannt), die sich selbst keinen Namen geben wollte, sondern einfach ‚Versammlung’ (als Übersetzung des neutest. Begriffs für ‚Gemeinde’, ekklesia).

Dieser Satz enthält bereits drei Fehler:

1. Die Brüderbewegung entstand nicht 1826, sondern 1827 oder 1829.

2. Darby war nicht der Gründer der Brüderbewegung, sondern stieß zu einem existierenden Hauskreis hinzu.

3. Die Brüderbewegung wurde nicht in Plymouth gegründet, sondern in Dublin. Die Gemeinde in Plymouth enstand erst im Januar 1832.

Zugrunde liegt der von Darby begründete Dispensationalismus (siehe dort), der streng zwischen allen nur Israel geltenden
irdischen Ausdrucksformen und der Gemeinde Jesu mit rein himmlischen Ausdrucksformen unterscheidet, weswegen Gemeinde keinen Namen und keine sichtbare Struktur haben darf, sondern ausschließlich in der Versammlung zum Abendmahl zum Ausdruck kommt.

4. Der Dispensationalismus lag der Entstehung der Brüderbewegung nicht "zugrunde", sondern wurde erst in den folgenden Jahren von Darby entwickelt.

5. Was sollen "nur Israel geltende irdische Ausdruckformen" und "rein himmlische Ausdrucksformen" sein? Ausdrucksformen wovon?

In der Frage, wie streng man diese Unsichtbarkeit der Gemeinde praktiziert und ob man mit andersdenkenden Brüdergemeinden und Christen Gemeinschaft haben kann, spaltete sich die Bewegung 1848 in die sog. geschlossenen oder exklusiven Brüder unter Darby (auch ‚alte Versammlung’ genannt), die sich streng von allen anderen separieren und noch nicht einmal das Ältestenamt anerkennen, und die sog. offenen Brüder unter Georg Müller, die das lokale Ältestenamt kennen und in gewissem Maße Gemeinschaft mit anderen Christen und sich selbst weltweit ‚Church of the Brethren’ (engl. Kirche der Brüder) nennen.

6. Damit sind die Gründe für die Spaltung von 1848 nur sehr ungenau beschrieben. Es ging bekanntlich darum, ob es genügt, selbst frei von falscher Lehre zu sein, oder ob man auch jede Verbindung zu falschen Lehrern abbrechen muss.

7. Die Bezeichnung "alte Versammlung" auf die "exklusiven Brüder" von 1848 anzuwenden ist ein Anachronismus. Diese Bezeichnung gibt es erst seit 1945, und das auch nur in Deutschland.

8. Die "offenen Brüder" nennen sich nicht "weltweit 'Church of the Brethren'", sondern meist "Christian Brethren".

Die Selbstbezeichnung ‚Brüder’ leitet sich zum einen davon ab, daß die Brüderversammlung vor Ort als höchste Leitungsinstanz gesehen wird, zum anderen, daß die Gemeinden Frauen nur im hinteren Teil der Gemeinde zuließen und, zum Teil bis heute, zur völligen Schweigsamkeit im Gottesdienst verpflichten.

9. Das ist völliger Unsinn. Die Bezeichnung "Brüder" hat mit beiden genannten Gründen nichts zu tun, sondern sie wurde in Anlehnung an Mt 23,8 gewählt, um das "antihierarchische" oder "antiklerikale" Selbstverständnis der "Brüder" auszudrücken: Es gibt keine "Geistlichen", keine "Pastoren" usw., sondern nur "Brüder".

Darby wirkte ab 1837 auch in der Schweiz, ab 1854 in D., wo 1847 Carl Brockhaus (1822-1899) mit dem Aufbau der auf das Nahe Ende und die Entrückung erwartenden Brüderbewegung begonnen hatte und vor allem 1855 und 1870 mit Darby die möglichst wortwörtlich übersetzende Elberfelder Bibelüberetzung herausgab, die Gemeinde immer mit Versammlung wiedergab.

10. Carl Brockhaus kam erst 1852 mit den Ideen der Brüderbewegung in Berührung, kann also nicht schon 1847 mit dem Aufbau von Brüdergemeinden begonnen haben.

11. Die vollständige Elberfelder Bibel erschien erst 1871.

1940/1941 zwang Hitler die Brüderbewegung zum organisatorischen Zusammenschluß, schließlich sogar mit den Baptisten zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, wobei die geschlossenen Brüder sich weigerten und in den Untergrund gingen.

12. Der Zusammenschluss zwischen "offenen" und "geschlossenen Brüdern" erfolgte nicht 1940/41, sondern bereits 1937.

13. Die Brüderbewegung wurde keineswegs zum Zusammenschluss "gezwungen". Die "geschlossenen Brüder" wurden bekanntlich verboten und dann als "BfC" – mit fester Organisationsstruktur – wieder zugelassen. Dieser Organisation traten die "offenen Brüder" aus freien Stücken bei.

14. Noch weniger trifft das Gesagte für den Zusammenschluss mit den Baptisten zu. Diesem Zusammenschluss stand der NS-Staat zunächst sogar skeptisch gegenüber, was auch der Grund dafür war, dass die staatliche Genehmigung erst nach einem Jahr (1942) erteilt wurde.

15. Es war nicht Hitler persönlich, der für diese Maßnahmen verantwortlich war, sondern verschiedene Behörden, die noch dazu Meinungsverschiedenheiten darüber hatten (siehe die Dissertation von Liese).

16. Die "geschlossenen Brüder" weigerten sich keinesfalls insgesamt, dem BfC bzw. BEFG beizutreten. Die Anzahl der "Nichtbündler" wird auf lediglich 5-12 % geschätzt.

Nach dem 2. Weltkrieg blieb ein Großteil der Brüdergemeinden mit den Baptisten zusammen, eine kleinerer Teil trat wieder aus dem Bund aus und betonte die Unabhängigkeit.

17. Von den über 600 Brüdergemeinden in Deutschland gehört nur etwa ein Fünftel dem BEFG an. Das kann wohl kaum als "Großteil" bezeichnet werden.

Seitdem unterscheidet man in D.: 1. die Offenen Brüder, die mit einer eigenen Struktur mit den Baptisten zusammen den Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden bilden, in der Evangelischen Allianz mit anderen Kirchen zusammenarbeiten, von gewählten Ältesten geleitet werden und zwar keine Pastoren, aber vollzeitliche Mitarbeiter kennen (Zentrum: Wiedenest). 2. die Freien Brüder, die zurückhaltend in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Christen sind, sich aber prinzipiell als Evangelikale verstehen und teilweise Kontakt zur Ev. Allianz haben (Zentrum: Dillenburg), und 3. die exklusiven Brüder, auch ‚Versammlungen’ oder ‚Darbisten’ genannt, die jede äußere Darstellung der Gemeinde ablehnen, also auch das Ältestenamt, und keine Gemeinschaft mit anderen Brüdergemeinden, geschweige denn mit anderen Christen kennen (Zentrum: Hückeswagen). In D. vertreten sie im Gegensatz zu den B. in einigen anderen Ländern die Glaubenstaufe Erwachsener.

18. Dass die "geschlossenen Brüder" "jede äußere Darstellung der Gemeinde ablehnen", ist falsch oder zumindest missverständlich. Sie verstehen sich selbst ja gerade als "Darstellung der Versammlung".

Die Offenen Brüder (1. und 2.) haben weltweit 2,8 Mill. Anhänger, die exklusiven Brüder (‚Darbisten’) 211.000.

19. Woher diese Zahlen stammen, ist unerfindlich. Insgesamt geht man eher von ca. 1 Mio. "Brüdern" weltweit aus, und das Verhältnis von "offenen" zu "geschlossenen Brüdern" beträgt sicher nicht 13:1!

Bei einer derartigen Häufung von Fehlern und Ungenauigkeiten fragt man sich, wie viel Vertrauen man den übrigen Artikeln dieser Konfessionskunde schenken kann!
Michael Schneider
schneid9
 
Beiträge: 312
Registriert: Do 3. Jul 2008, 16:10
Wohnort: Gießen

Re: Thomas Schirrmacher über die Brüderbewegung

Beitragvon asderrix am Do 16. Okt 2008, 22:28

Hallo Michael, hast du ihm dein Feedback schon mal geschrieben?

lg
asder
asderrix
 
Beiträge: 245
Registriert: Mo 28. Jul 2008, 10:57

Re: Thomas Schirrmacher über die Brüderbewegung

Beitragvon schneid9 am Fr 17. Okt 2008, 13:51

Nein. Ich sehe es eigentlich als Aufgabe eines Autors an, sich vor der Veröffentlichung gründlich zu informieren und nicht nachher auf Korrekturen zu warten ...

Um die vielen Fehler zu vermeiden, hätte Schirrmacher übrigens nicht mehrere dicke Bücher lesen müssen. In den bisherigen konfessionskundlichen Handbüchern sind z.T. bereits recht gute und faktisch richtige Artikel enthalten. Einer der besten, die ich kenne, steht in dem noch im letzten Jahr der DDR erschienenen Kirchenlexikon, hrsg. von Sigrid und Karl-Wolfgang Tröger, Berlin (Union Verlag) 1990, S. 44-46.

Eine neue Konfessionskunde, verfasst von Stephan Holthaus, erscheint übrigens demnächst bei Jota. Das Kapitel über die Brüderbewegung habe ich schon vorab gelesen.
Michael Schneider
schneid9
 
Beiträge: 312
Registriert: Do 3. Jul 2008, 16:10
Wohnort: Gießen

Re: Thomas Schirrmacher über die Brüderbewegung

Beitragvon schneid9 am Mo 27. Okt 2008, 20:48

Die Konfessionskunde von Stephan Holthaus ist jetzt erschienen. Ich eröffne dazu einen neuen Thread.
Michael Schneider
schneid9
 
Beiträge: 312
Registriert: Do 3. Jul 2008, 16:10
Wohnort: Gießen


Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste

cron