Was ist eine Brüdergemeinde?

Bibelverständnis der Brüderbewegung in Theorie und Praxis

Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon schneid9 am Fr 19. Apr 2013, 21:42

Es hat in den letzten Jahren immer mal wieder Versuche gegeben, zu definieren, was eine Brüdergemeinde eigentlich ausmacht (z.B. von Gerhard Jordy, Hartwig Schnurr, Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden, Philip Nunn). Teilweise scheinen mir dabei allerdings äußerliche bzw. organisatorische Merkmale zu sehr im Vordergrund zu stehen. Ist wirklich jede Gemeinde, die sich als bibeltreu versteht, keinen Pastor hat, das "allgemeine Priestertum" praktiziert und jede Woche das Abendmahl feiert, eine Brüdergemeinde? Dann könnte z.B. auch eine Gemeinde, in der die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes, die Verlierbarkeit des Heils und der Postmillennialismus gelehrt wird, als Brüdergemeinde durchgehen. Aber ist das historisch und theologisch gerechtfertigt? Meiner Meinung nach gehört zur Identität einer Brüdergemeinde unbedingt auch eine dispensationalistische Theologie (und damit meine ich nicht nur eine dispensationalistische Eschatologie, sondern auch eine dispensationalistische Soteriologie und Ethik).

Ich habe vor einiger Zeit mal versucht, die (meiner Einschätzung nach) wichtigsten Merkmale von Brüdergemeinden in knappstmöglicher Form zusammenzustellen, und zwar so, dass sich sowohl "offene" als auch "geschlossene" Gemeinden grundsätzlich darin wiederfinden können. (Mir ist natürlich klar, dass "geschlossene Versammlungen" sich gar nicht als Brüdergemeinden, ja noch nicht einmal als besondere Gruppe von Gemeinden bezeichnen würden, aber das ist natürlich ein sehr idealistischer, praxisferner Standpunkt.) Kommentare und Ergänzungen sind willkommen.

1. Einfachheit
Brüdergemeinden orientieren sich an den schlichten Gemeindestrukturen des Neuen Testaments. Dazu gehört der Verzicht auf einen besonderen konfessionellen Namen, der sie von anderen Gemeinden mit anderen Namen abgrenzen würde, auf eine formelle Mitgliedschaft, auf hierarchische Organisationsstrukturen u.a.

2. Selbständigkeit und Einheit
Brüdergemeinden sind grundsätzlich selbständig, also keiner überregionalen, nationalen oder internationalen Kirche, Freikirche oder Organisation angeschlossen. Sie pflegen aber freundschaftliche Kontakte und Austausch mit ähnlich ausgerichteten Gemeinden an anderen Orten und fühlen sich mit allen wiedergeborenen Christen verbunden.

3. Allgemeines Priestertum
Es wird nicht zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ unterschieden, sondern jeder Gläubige darf entsprechend den Gaben, die er von Gott erhalten hat, zum Gemeindeleben beitragen. Für keinen der Dienste in der Gemeinde ist eine besondere Ausbildung oder formelle Anstellung erforderlich.

4. Spontaneität
Brüdergemeinden vertrauen darauf, dass der Heilige Geist ihre Zusammenkünfte leitet. Daher wird der Ablauf in der Regel nicht im Voraus geplant, sondern er ergibt sich aus spontanen Gebeten, Liedvorschlägen, Bibellesungen, Wort- und Predigtbeiträgen.

5. Bruderschaftliche Leitung
Eine Gruppe von Brüdern, die sich für die Gemeinde verantwortlich fühlen, übt eine gewisse Leitungsfunktion aus. Sie stehen jedoch nicht über der Gemeinde, sondern mitten in ihr und legen wichtige Entscheidungen der gesamten Gemeinde zur Prüfung vor.

6. Gläubigentaufe
Die Taufe wird als persönlicher Gehorsamsakt nach der Bekehrung verstanden und durch Untertauchen praktiziert. Von Gläubigen, die als Kinder in einer christlichen Kirche getauft wurden und diese Taufe als gültig anerkennen, wird aber keine Wiedertaufe verlangt.

7. Hochschätzung des Abendmahls
Das Abendmahl (Brotbrechen) spielt in Brüdergemeinden eine zentrale Rolle. Es wird nach dem Vorbild des Neuen Testaments jeden Sonntag gefeiert und von Gebeten, Liedern und Schriftlesungen zur Ehre Gottes umrahmt.

8. Gastfreundschaft
Zu allen Zusammenkünften sind Gäste herzlich willkommen. Am Mahl des Herrn dürfen sie teilnehmen, wenn sie bekennen, dass Jesus Christus ihr Retter und Herr ist und dass sie nicht in einer moralischen oder lehrmäßigen Sünde leben, die nach dem Neuen Testament von der Gemeinschaft ausschließt.

9. Bibeltreue
Die Heilige Schrift gilt als höchste Autorität für Lehre und Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Alle Auslegungen, Meinungen und Erfahrungen müssen sich an ihrem Maßstab prüfen lassen.

10. Heilsgeschichtliche Bibelauslegung
Brüdergemeinden sind überzeugt, dass Gott im Laufe der Geschichte auf verschiedene Weise mit den Menschen umgegangen ist. Insbesondere werden das alttestamentliche Volk Israel und die neutestamentliche Gemeinde als unterschiedliche Personengruppen gesehen, für die unterschiedliche Aussagen der Bibel gelten.

11. Stellung und Zustand des Gläubigen
Brüdergemeinden unterscheiden zwischen der vollkommenen, unverlierbaren Stellung des Gläubigen in Christus und seinem oft noch unvollkommenen praktischen Zustand. Das christliche Leben soll durch ständiges Wachstum in der Erkenntnis und der Nachfolge Jesu Christi gekennzeichnet sein.

12. Naherwartung
Brüdergemeinden erwarten die baldige Wiederkunft des Herrn Jesus zur Auferweckung der verstorbenen und zur Entrückung der lebenden Gläubigen.
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon Armin Eichhorn am Sa 20. Apr 2013, 00:28

1. Einfachheit
Brüdergemeinden orientieren sich an den schlichten Gemeindestrukturen des Neuen Testaments. Dazu gehört der Verzicht auf einen besonderen konfessionellen Namen, der sie von anderen Gemeinden mit anderen Namen abgrenzen würde, auf eine formelle Mitgliedschaft, auf hierarchische Organisationsstrukturen u.a.

Ist "Brüdergemeinde" nicht auch schon ein "besonderer konfessioneller Name"? Und wie ist es mit "Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde"?

2. Selbständigkeit und Einheit
Brüdergemeinden sind grundsätzlich selbständig, also keiner überregionalen, nationalen oder internationalen Kirche, Freikirche oder Organisation angeschlossen. Sie pflegen aber freundschaftliche Kontakte und Austausch mit ähnlich ausgerichteten Gemeinden an anderen Orten und fühlen sich mit allen wiedergeborenen Christen verbunden.

Sind AVs wirklich "selbständig"? Und ist der BEFG nicht eine "nationale Freikirche"?

4. Spontaneität
Brüdergemeinden vertrauen darauf, dass der Heilige Geist ihre Zusammenkünfte leitet. Daher wird der Ablauf in der Regel nicht im Voraus geplant, sondern er ergibt sich aus spontanen Gebeten, Liedvorschlägen, Bibellesungen, Wort- und Predigtbeiträgen.

Das scheint mir eine sehr traditionelle Sicht zu sein. In vielen Brüdergemeinden wird der Ablauf sehr wohl vorher festgelegt.

5. Bruderschaftliche Leitung
Eine Gruppe von Brüdern, die sich für die Gemeinde verantwortlich fühlen, übt eine gewisse Leitungsfunktion aus. Sie stehen jedoch nicht über der Gemeinde, sondern mitten in ihr und legen wichtige Entscheidungen der gesamten Gemeinde zur Prüfung vor.

Was heißt das genau? Was sind "wichtige" Entscheidungen?

6. Gläubigentaufe
Die Taufe wird als persönlicher Gehorsamsakt nach der Bekehrung verstanden und durch Untertauchen praktiziert. Von Gläubigen, die als Kinder in einer christlichen Kirche getauft wurden und diese Taufe als gültig anerkennen, wird aber keine Wiedertaufe verlangt.

Ist das so? In den meisten Brüdergemeinden gibt es m.W. doch eine "Wiedertaufe".

8. Gastfreundschaft
Zu allen Zusammenkünften sind Gäste herzlich willkommen. Am Mahl des Herrn dürfen sie teilnehmen, wenn sie bekennen, dass Jesus Christus ihr Retter und Herr ist und dass sie nicht in einer moralischen oder lehrmäßigen Sünde leben, die nach dem Neuen Testament von der Gemeinschaft ausschließt.

Das gilt für AVs so nicht: Hier muss man sich außerdem auch noch von "kirchlich Bösem" absondern.

9. Bibeltreue
Die Heilige Schrift gilt als höchste Autorität für Lehre und Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Alle Auslegungen, Meinungen und Erfahrungen müssen sich an ihrem Maßstab prüfen lassen.

Warum kommt das erst als Punkt 9? Sollte das nicht als Grundlage am Anfang stehen?

11. Stellung und Zustand des Gläubigen
Brüdergemeinden unterscheiden zwischen der vollkommenen, unverlierbaren Stellung des Gläubigen in Christus und seinem oft noch unvollkommenen praktischen Zustand. Das christliche Leben soll durch ständiges Wachstum in der Erkenntnis und der Nachfolge Jesu Christi gekennzeichnet sein.

Inwiefern ist das ein identitätsstiftendes Merkmal?

12. Naherwartung
Brüdergemeinden erwarten die baldige Wiederkunft des Herrn Jesus zur Auferweckung der verstorbenen und zur Entrückung der lebenden Gläubigen.

"Verstorbenen" muss groß geschrieben werden.
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon Levi am Sa 20. Apr 2013, 11:24

Lieber Michael,

vielen Dank für die Eröffnung dieser interessanten Fragestellung. Ich beobachte immer mehr den Identitätsverlust in der sog. Brüderbewegung. Immer mal wieder bin ich auf den Homepages von den Gemeinden unterwegs und stelle fest, dass man eine Brüdergemeinde anhand ihrer Selbstdarstellung oft kaum mehr von einer anderen (evangelikalen) Freikirche unterscheiden kann. Ob das gewollt ist, weiß ich nicht. Ob das jetzt gut oder schlecht sein soll, mag jeder für sich selbst vor Gott entscheiden.

Meine Beobachtungen und Fragen zu einzelnen Punkten

1. Einfachheit
Abgesehen von der grundsätzlichen Diskussion, ob Namen gut oder schlecht sind, frage ich mich mittlerweile, ob es nicht sehr anmaßend oder sinnvoll ist sich "Christliche Gemeinde" oder "Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde" zu nennen. Denn entweder führt, das dazu, dass man sich fragen muss, ob andere Christen in einer Stadt nicht auch "Christliche Gemeinde" sind oder was genau jetzt diese - wenn man ihren Namen wortwörtlich ernstnimmt "Christliche Gemeinde" jetzt unterscheidet von anderen christliche Gemeinden an einem Ort.

3. Allgemeines Priestertum und 5. Bruderschaftliche Leitung
Man muss sich ernsthaft die Frage stellen, wohin die Reise führt, wenn es immer mehr Ältestenämter in Brüdergemeinden geht. Die EFG Haiger hat sogar schon einen Pastor. Stehen heute nicht oft die Ämter im Vordergrund, und nicht die Dienste? M.W. bezeichnet Darby in einem Aufsatz der CW die Einführung einen Klerus als die Sünde gegen den Heiligen Geist in dieser Haushaltung

4. Spontaneität
Ich habe keinen Überblick darüber, wieviele Versammlungen noch an dem Grundsatz festhalten, nicht den oder die Redner für den Sonntag schon vorher festzulegen. Kann das jemand besser einschätzen. Außerdem gibt es schon in etlichen Versammlungen Bands, Beamer etc. die eine gewisse Spontaneität ausschließen.

Soweit mal meine subjektiven Einschätzungen.
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon schween am Sa 20. Apr 2013, 19:26

Levi hat geschrieben:Immer mal wieder bin ich auf den Homepages von den Gemeinden unterwegs und stelle fest, dass man eine Brüdergemeinde anhand ihrer Selbstdarstellung oft kaum mehr von einer anderen (evangelikalen) Freikirche unterscheiden kann.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich hauptsächlich die "modernen" "Brüdergemeinden" im Internet über Homepages darstellen. Ein wesentlicher Teil verzichtet, auf so ein Profil. Das verzerrt den Blick und scheint wenig repräsentativ.

Im unserem letzten Urlaub hab ich extra nach einer Brüdergemeinde in der Nähe unseres Urlaubsortes gesucht, aber wo wir da gelandet waren, konnte ich fast nicht glauben.
Das Abendmahl ging ja noch, da wurde noch Gottes Wort gelesen, aber der "Predigtgottesdienst" war die reine Gesetzlosigkeit.
Man kann sich also nicht auf einen bestimmten Namen oder eine bestimmte Richtung verlassen. Es scheint mir eine extreme Heterogenität auch in den sogenannten Brüdergemeinden vorzuliegen.
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon Levi am Sa 20. Apr 2013, 19:49

Ja, schween, du hast natürlich vollkommen recht. Wobei mir von 321 Versammlungen, d.h. fast die Hälfte der deutschen Versammlungen, die Homepages mir bekannt sind. Darunter 111 Bundesversammlungen, 50 Blockfreie, 110 FB, 15 AV, 35 NV. Das gibt m.E. schon ein repräsentatives Bild.
Natürlich mag auch das Versammlungsleben ganz anders aussehen. Wenn ich mir aber die Bekenntnisse dort anschaue, so diese in den meisten Fälle sehr allgemein gehalten.
Eine gute Ausnahme ist z.B.: Heidelberg
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon schneid9 am Sa 20. Apr 2013, 21:32

Hallo Armin,

den meisten deiner Einwände kann ich durchaus zustimmen – ich hatte eher die "Mitte" des brüdergemeindlichen Spektrums im Blick, während deine Beispiele vor allem dem "linken" (BEFG) und "rechten" (AV) Rand entstammen. Kurz zu deinen Fragen:

Armin E. hat geschrieben:Ist "Brüdergemeinde" nicht auch schon ein "besonderer konfessioneller Name"?

Ja und nein. Ich denke, die meisten Brüdergemeinden verwenden das Wort nach wie vor mit einem gewissen inneren Vorbehalt, weil sie eigentlich wissen, dass abgrenzende Namen im Grunde sektiererisch sind. Auf der anderen Seite können sie die Augen nicht davor verschließen, dass sie de facto irgendwie doch eine spezielle Art von Gemeinden sind. Dieses Dilemma hat die Brüderbewegung ja von Anfang an geplagt und scheint mir bis heute nicht befriedigend lösbar zu sein.

Armin E. hat geschrieben:Und wie ist es mit "Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde"?

Das war anfangs wahrscheinlich auch nicht als abgrenzender konfessioneller Name gedacht (ähnlich wie "freie evangelische Gemeinde" – ursprünglich kleingeschrieben!). Als der BEFG 1941/42 gegründet wurde, hatte man ja das Fernziel, alle freikirchlichen Kreise zu vereinigen, und dafür brauchte man einen möglichst allgemeinen Namen. Im Laufe der Zeit ist EFG dann natürlich doch zu einer Art Konfessionsbezeichnung geworden. Mir scheint, die Brüdergemeinden im BEFG stecken da ebenfalls in einem Dilemma: Auf der einen Seite teilen sie sich mit den Baptisten den Namen EFG und symbolisieren damit Einheit, auf der anderen Seite kommen sie um einen spezielleren Namen wie AGB eben auch nicht herum.

Armin E. hat geschrieben:Sind AVs wirklich "selbständig"?

Grundsätzlich ja, würde ich sagen: "selbständig", aber nicht "unabhängig". Selbständig, weil sie ihre örtlichen Angelegenheiten (z.B. Zulassungen und Ausschlüsse) selbst regeln können, ohne eine überörtliche Instanz einschalten zu müssen; aber nicht unabhängig, weil sie an die Entscheidungen anderer Versammlungen über deren örtliche Angelegenheiten gebunden sind.

Armin E. hat geschrieben:Und ist der BEFG nicht eine "nationale Freikirche"?

Ja. Deshalb würde ich die Brüdergemeinden im BEFG auch nicht mehr als typische Brüdergemeinden ansehen.

Armin E. hat geschrieben:Das scheint mir eine sehr traditionelle Sicht zu sein. In vielen Brüdergemeinden wird der Ablauf sehr wohl vorher festgelegt.

Stimmt. Das sollte man vielleicht etwas eingeschränkter formulieren.

Armin E. hat geschrieben:Was heißt das genau? Was sind "wichtige" Entscheidungen?

Das kann man so allgemeingültig sicher kaum definieren. Zumindest dürften die bekannten Zulassungs- und Ausschlussentscheidungen dazugehören.

Armin E. hat geschrieben:Ist das so? In den meisten Brüdergemeinden gibt es m.W. doch eine "Wiedertaufe".

Ob es die meisten sind, weiß ich nicht; wenn es so ist, schlägt sich darin wohl baptistischer Einfluss nieder. Ursprünglich haben die "Brüder" (ähnlich wie die FeGs) keine Wiedertaufe verlangt.

Armin E. hat geschrieben:Das gilt für AVs so nicht: Hier muss man sich außerdem auch noch von "kirchlich Bösem" absondern.

Richtig.

Armin E. hat geschrieben:Bibeltreue [...] Warum kommt das erst als Punkt 9? Sollte das nicht als Grundlage am Anfang stehen?

Da die Punkte 1-8 eher organisatorische und praktische Dinge betreffen, erschien es mir sinnvoller, die Bibeltreue in den eher lehrmäßigen Teil (Punkte 10-12) einzuordnen. Ich habe sogar überlegt, sie ganz herauszulassen – nicht weil sie unwichtig wäre oder weil ich Brüdergemeinden nicht für bibeltreu hielte, sondern weil das m.E. kein besonderes Merkmal von Brüdergemeinden ist. Sehr viele Gemeinden verstehen sich heute als bibeltreu, auch solche, die ganz andere Lehren vertreten als die "Brüder" (z.B. russlanddeutsche Gemeinden, reformierte Baptisten usw.).

Armin E. hat geschrieben:Stellung und Zustand des Gläubigen [...] Inwiefern ist das ein identitätsstiftendes Merkmal?

Im Grunde ist das eine Zusammenfassung der dispensationalistischen Soteriologie, die die Brüderbewegung von Anfang an charakterisiert hat. Ich nenne als Stichworte nur Darbys "Leben im Sieg Christi", den angeblichen Perfektionismus der ersten deutschen "Brüder" usw. (Interessanterweise richtet sich John H. Gerstners Dispensationalismus-Kritik Wrongly Dividing the Word of Truth fast ausschließlich gegen die Soteriologie und behandelt die sonst oft als Kern des Dispensationalismus geltende Eschatologie nur am Rande!)

Armin E. hat geschrieben:"Verstorbenen" muss groß geschrieben werden.

Nein, das bezieht sich auf "Gläubigen" und wird daher kleingeschrieben (siehe § 58 (1) des amtlichen Regelwerks).
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon schween am So 21. Apr 2013, 19:14

Das ist auch wieder so eine Sache, das Wörtchen "bibeltreu". Es hat eine fast ebenso große Heterogenität, wie der Begriff "Brüdergemeinde".
Ich hab erfahren, dass man sich meist schwer tut, von der Bibel her zu argumentieren bzw. Bibelstellen gegeneinaner auszuspielen versucht, oder von bestimmten Schlüsseltheologen oder Bibelschulen etc. her argumentiert. Und es gibt nahezu keinen, der ein "weiß ich nicht" bzgl. einer bestimmten Lehrstreitigkeit herausbringt. Auf der anderen Seite gibt es einige, die allzu oft mit einem "dass kann man nicht genau wissen" die Erforschung der Heiligen Schrift abzuwürgen versuchen, wenn es aufwendig wird.
Und auch bei den großen "Glaubenshelden" unserer Zeit und Vergangenheit kann man nur einen Schritt neben wunderbarer biblischer Erkenntnis unfassbare Verirrungen finden.
Wir müssen einfach viel mehr Zeit im kindlichen Lesen der Schrift verbringen und dagegen ankämpfen, schnelle Antworten finden zu wollen. Aber wer schafft es schon in dieser schnelllebigen Zeit sich die Gelengenheit dafür zu nehmen? Möglich ist es jedoch. (Aber das ist schon wieder ein anderes Thema)
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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon Clemens A. Heidrich am Di 23. Apr 2013, 14:42

Habe gerade nochmal Willem J. Ouweneels "Christliche Versammlung - wohin?" gelesen - vielleicht das Beste und Klarsichtigste, was je zum Thema "Brüder-Identität" geschrieben worden ist.

Zu den "Alleinstellungsmerkmalen" der Brüder:

W.J. Ouweneel hat geschrieben:Darüber hinaus hat die »Brüderbewegung« wie jede Glaubensgemeinschaft einige einmalige Kennzeichen, so etwa (negativ) einen Widerwillen gegen eine formelle Amtsauffassung, besonders gegen den Ein-Mann-Dienst, und (positiv) einen Gottesdienst, in dem jeden Sonntag das Abendmahl und spontane Anbetung im Mittelpunkt stehen, ohne (explizite) menschliche Leitung der Zusammenkunft. Dies sind auch genau die Kriterien, anhand deren man feststellen kann, ob eine bestimmte Gemeinde noch als »Versammlung der Brüder« bezeichnet werden kann: Wo die Anbetungszusammenkunft in den Hintergrund und die Ein-Mann-Wortverkündigung in den Vordergrund tritt, ist eine solche »Versammlung« eine durchschnittliche evangelikale Gemeinde geworden.

Zum Selbstverständnis als Gruppe/Glaubensgemeinschaft:

W.J. Ouweneel hat geschrieben:Prinzipiell machen sie keinerlei Unterschied zwischen den Gläubigen, mit denen sie praktisch zusammenkommen, und anderen Gläubigen. Doch in der Praxis geschah das Unvermeidliche. Die »Brüder« legten so sehr den Nachdruck darauf, dass sie nichts anderes als »einfach Brüder« sein wollten und dass sie keine andere Kirche oder Gemeinde (aner)kannten als die »Versammlung aller wahren Christgläubigen«, dass die Außenwelt gerade diese Umschreibungen auf »die (!) Brüder« selbst anzuwenden begann. So entstanden Bezeichnungen wie »die Brüder«, »Christliche Versammlung« und örtliche »Versammlungen« – Namen, die genau jenen sektiererischen Charakter haben, den die »Brüder« vermeiden wollten.

Und noch etwas Unvermeidliches geschah: Auch die »Brüder« begannen von selbst daran mitzuwirken. Die Strengsten unter ihnen werden den Ausdruck »Brüderbewegung« niemals in den Mund nehmen, und sie wollen auf keinen Fall, dass die Anfangszeiten ihrer Zusammenkünfte in der Zeitung zwischen denen anderer erscheinen, denn dann würden die »Brüder« ja zu einer gewöhnlichen Glaubensgemeinschaft unter vielen erniedrigt. Aber auch diese Strengen sprechen von »den Brüdern« und »den Versammlungen« und meinen damit wirklich nur diejenigen, mit denen sie praktisch zusammenkommen. Natürlich werden solche, die in der »Lehre der Brüder« (auch dies wieder entschieden im engeren Sinn gemeint!) bewandert sind, immer wieder betonen: Eigentlich sind natürlich alle Gläubigen »Brüder«, und eigentlich ist die örtliche »Versammlung« die Summe aller örtlichen Gläubigen. Aber auch die strengsten »Brüder« reden ständig von »den Brüdern« und »den Versammlungen« im engeren Sinn. Es gibt nur wenige, die erkennen, dass die »Brüder« sich damit zwar nicht de jure, aber doch de facto als »Glaubensgemeinschaft« verstehen, wie sehr die Dogmatiker unter ihnen dies auch bestreiten mögen.

Ouweneel stellt dann die Frage, ob es "schlimm" wäre, wenn sich die "Brüder" einfach als eine Glaubensgemeinschaft unter vielen erweisen würden:

W.J. Ouweneel hat geschrieben:Die bizarre Antwort lautet: ja und nein.

Betrachten wir zuerst das »Ja«. Vom Anfang der »Brüderbewegung« an haben die »Brüder«, wie gesagt, einen streng anti-sektiererischen Standpunkt eingenommen. Praktisch bedeutete das nach ihren Erkenntnissen: kein eigener Name, keine rechtliche Körperschaft, keine Mitglieder und Mitgliederlisten, keine Buchführung, keine Archive, keine offiziellen Führer. Kurzum: keine eigene Identität – nichts, was den »Brüdern« auf irgendeine Weise eine »Identität« als Glaubensgemeinschaft unter Glaubensgemeinschaften geben würde. Einfach nur eine Gruppe bibeltreuer Christen, wie es Millionen auf Erden gibt; nichts anderes. [...]

Jedermann hätte sich natürlich denken können, dass das sorgfältige Vermeiden einer eigenen Identität völlig unmöglich war, und das hat sich auch bald gezeigt. Es war ein unerreichbares Ideal; so unerreichbar, dass viele »Brüder« in der Praxis kein Problem mehr damit haben »zuzugeben«, dass sie »von der Versammlung sind« (was natürlich nach der eigenen Lehre eine äußerst »sektiererische« Aussage ist). Aber jetzt kommt das Frappierende, und das hat mit dem »Nein« auf die oben gestellte Frage zu tun. Es ist gerade überhaupt nicht so, dass die »Brüder« alles getan haben, um eine eigene Identität zu vermeiden, im Gegenteil: Von Anfang an haben sie (unbewusst) alles getan, um sich eine absolut einmalige Identität zu geben. Hier liegt ein Kernproblem der »Brüderbewegung«, das so tief verwurzelt ist, dass beinahe ihre ganze Geschichte aus der Spannung zwischen diesen beiden Gegensätzen erklärt werden kann: auf der einen Seite absolut anti-sektiererisch jede Identität zu vermeiden und sich auf der anderen Seite von Anfang an eine so eigene Identität zu geben, dass sie unter allen bibeltreuen Christen eine einmalige, äußerst eigentümliche Stellung einnimmt.

So klar hat das meines Wissens noch niemand anderes erkannt und formuliert. Mir scheint, gerade die von Michael genannten Lehrbesonderheiten (z.B. "Heilsgeschichtliche Bibelauslegung" [= Dispensationalismus], "Stellung und Zustand des Gläubigen") haben entscheidend zur Entstehung einer speziellen Gruppenidentität beigetragen. Wenn die "Brüder" einfach nur "Christen" sein wollten, hätten sie auch auf alle Lehrbesonderheiten verzichten müssen. Aber wie hätte das praktisch funktionieren sollen? Bei der Vielzahl möglicher Bibelauslegungen muss ja irgendwo eine Grenze gezogen werden, wenn man nicht will, dass z.B. an einem Sonntag die Gültigkeit des atl. Gesetzes für Christen gepredigt wird und am nächsten Sonntag die Ungültigkeit, oder dass in Bibelstunden endlose Diskussionen über den Zeitpunkt der Entrückung stattfinden. Vielleicht sollten sich Brüdergemeinden einfach schon aufgrund dieser Lehrbesonderheiten ehrlich eingestehen: Wir sind eine besondere Glaubensgemeinschaft.

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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon Clemens A. Heidrich am Di 23. Apr 2013, 18:16

schween hat geschrieben:Das ist auch wieder so eine Sache, das Wörtchen "bibeltreu". Es hat eine fast ebenso große Heterogenität, wie der Begriff "Brüdergemeinde".

Auch dazu noch ein treffendes Ouweneel-Zitat:

W.J. Ouweneel hat geschrieben:Alle Theologen sind ihrem Verständnis nach bibeltreu! Denn sie reden über die Bibel so, wie sie denken, dass sie der Bibel am besten gerecht werden. Ich definiere "bibeltreu" daher so: von der Bibel das glauben, was sie von sich selbst bezeugt. Das heißt: das Selbstverständnis der Bibel ernst nehmen. Wer sagt: "Die Bibel sagt zwar dies und das von sich selbst, aber wir wissen, dass es anders ist", ist nicht bibeltreu. So würde ich das definieren.

Das ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, "bibeltreu" vernünftig zu definieren: von der Haltung her, die jemand zur Bibel einnimmt. Viele beziehen "Bibeltreue" auf das Ergebnis der Bibelauslegung: Bibeltreu ist, wer bestimmte Auslegungen vertritt. In der Praxis sind das natürlich immer die Auslegungen, denen man auch selbst anhängt. Damit wird "Bibeltreue" zum bloßen Synonym für den eigenen Standpunkt (der naiv mit der biblischen Wahrheit gleichgesetzt wird).

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Re: Was ist eine Brüdergemeinde?

Beitragvon schneid9 am Sa 27. Apr 2013, 19:27

Levi hat geschrieben:Wenn ich mir aber die Bekenntnisse dort anschaue, so diese in den meisten Fälle sehr allgemein gehalten. Eine gute Ausnahme ist z.B.: Heidelberg

Das ist in der Tat ein ziemlich aussagekräftiges und differenziertes Bekenntnis. An einer Stelle scheint es mir aber zu weit zu gehen. In Abschnitt A heißt es unter Punkt 8:

Die universale Gemeinde oder Gemeinde besteht aus allen Menschen, die zwischen Pfingsten und der Wiederkunft von Jesus Christus für seine Gemeinde, an ihn gläubig geworden sind.

Am Ende des Bekenntnisses steht dann:

Jeder Gläubige in Gemeinschaft muss hinsichtlich der oben angeführten zentralen Lehren (Abschnitt A) in Übereinstimmung mit der Gemeinde sein.

Auf Punkt A8 angewandt hieße das konkret, dass jemand, der die traditionelle Lehre einer "Kirche von Adam an" vertritt, nicht am Brotbrechen teilnehmen kann. Lässt sich das wirklich biblisch rechtfertigen? Ich selbst bin auch überzeugt, dass die Gemeinde erst in Apg 2 begann (und würde mich auch dafür einsetzen, dass nur das in der örtlichen Gemeinde gelehrt wird), aber wer es für sich persönlich anders sieht, ist doch deswegen kein Irrlehrer nach 2Joh, dem man die Gemeinschaft verweigern müsste?!
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