Die Entstehung der Wiener Versammlung

Historische Entwicklung der Brüderbewegung, historische Personen, Geschichte verwandter Strömungen

Die Entstehung der Wiener Versammlung

Beitragvon Manfred Karg am Mi 6. Aug 2008, 04:18

Unsere Schwester Ruth Heuschkel hat mir eine Aufzeichnung ihres Vaters Benno Brandt gegeben. Vielleicht ist es in diesem Forum interessant.

Die Entstehung der Wiener Versammlung.

Im Jahre 1912 fuhr Bruder Fr. J. Kresina (schon beim HERRN) mit seinem Fahrrad durch Böhmen und Mähren, um Geschwister zu besuchen. Infolge eines Fahrraddefektes in Mähren mußte er die Bahn benützen. Im Zuge zeugte er einer Frau von dem Heil in Christo. Diese Frau (Schwester Bezdek) bekehrte sich und bald darauf besuchte sie ihre Verwandten in Wien. Da fand sie eine suchende Seele, ihre eigene Schwägerin Frau Maria Zahradnik, welche der HERR durch viele Trübsale hindurchführte und so im HERRN Frieden fand. Diese Schwester Zahradnik hatte keine Gemeinschaft mit Gläubigen, sondern hatte nur Gottes Wort und die Zeitschrift von Bruder Kresina herausgegeben: "Ze slov pravdi a lasky" ("Aus dem Worte der Wahrheit und Liebe").

Im Jahre 1913 bekam sie von Bruder Kresina die Nachricht, daß in der Seidengasse 16 im VII. Bezirk ein Bruder Parnham Versammlungen abhalte. Schwester Zahradnik besuchte mit der damals 15jähr. Tochter Maria die Versammlungen. Es waren damals 5 Seelen in dem großen Raum. Das Gebet des Bruders hat tiefen Eindruck auf die Tochter gemacht. Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges wurde Br. Parnham interniert, welcher sofort nach Beendigung des Krieges 1918 nach England zurückkehrte. Durch anhaltendes Gebet der Mutter bekehrte sich die inzwischen 19 Jahre alt gewordene Tochter Maria. Da sie aber ohne jede biblische Belehrung waren, heiratete die Tochter Maria einen ungläubigen österreichischen Offizier, welcher heute der älteste männliche Gläubige der Wiener Gemeinde ist.

Durch Vermittlung der Brüder Kresina und des bereits heimgegangenen Bruder Warns kam im November 1918 ein gläubiger röm. kath. Priester, Prof. Dr. theol. Dr. phil. Fritz Schweizer, welcher mit Br. Warns durch Bezug der Zeitschriften "Offene Türen, etc." in Verbindung stand, ohne daß es Br. Warns gewußt hätte, daß es ein kath. Priester ist, Schwester Zahradnik und die inzwischen verheiratete Tochter Maria Brandt besuchen. Dieser Prof. Schweizer sandte nach seinem Besuch wieder Bruder Franz Simonischek, einen treuen, demütigen Bruder im HERRN, zur Frau Brandt. Br. Simonischek hat die beiden Frauen in die Versammlung XVI Hernalser Hauptstraße 125 eingeladen; die in einem kleinen Raum stattfand. Ungefähr 5 Seelen versammelten sich in dem kleinen Raum. Schwester Zahradnik lud nächstens das Bürofräulein Anna MaIy, die im Geschäfte angestellt war, ein. Diese kam bald zum Glauben.

Im Jänner 1919 übersiedelte Br. Fr. Simonischek in VI Kasernengasse 12, (heute Otto Bauergasse) wo er ein Zimmer mietete. Hier versammelten sich schon 12-15 Seelen, meistens Verwandte und Angestellte der Schwester Zahradnik, ihre Tochter Maria Brandt, deren unbekehrter Mann, Schw. Maly, die leibliche Schwester der Schwester Zahradnik, ihr Sohn Hans, ein Sohn von Schw. Zahradnik Franz, 2 Dienstmädchen, eine Vorarbeiterin aus dem Geschäfte, diese kamen zum Glauben. Außer den Obgenannten versammelten sich noch einige Gläubige und Fernstehende. In diesem Raum hörte ich das erste Mal das Evangelium und daß ich den HERRN als meinen Heiland brauche. Hier wurde die Versammlung bis Mai 1919 abgehalten.

Durch die Gnade des HERRN wuchs die Anzahl der Besucher, die auf der Straße eingeladen wurden, derart, daß man sich um einen größeren Raum umsehen mußte. Wieder schenkte der HERR ein großes Zimmer auf Grund der Bitten, in der Gumpendorferstraße 63a, VI. Bez. und in diesem Zimmer konnten wir die 40 Stühle, 1 Kasten, 1 Tisch, 1 Ofen, 1 Rednerpult und viele Liederbücher, welche Br. Parnham der Versammlung geschenkt hatte, unterbringen. Der HERR tat neuerdings Seelen hinzu. Der Raum wurde wieder zu klein und der HERR erhörte unsere Gebete und gab uns noch einen Raum dazu. Jetzt faßten wir mehr Mut, da wir 40 Stühle hatten, baten wir vorerst den HERRN, Er möge die Stühle mit nicht bekehrten Seelen besetzen lassen. Als dies einige Sonntage geschah, wurden wir wieder dreister und baten den HERRN, Er möge die Stühle mit gläubigen Seelen besetzen.

Auch diese Räume wurden in kurzer Zeit zu klein, da sich der HERR zu der Arbeit bekannt hat, daß wir wieder um einen größeren Raum bitten durften. Im Jahre 1920 wurden, noch in der Gumpendörferstraße 63a, 21 Geschwister durch Br. Kresina getauft. Bald darauf hörten wir von einer Schwester von einer Wohnung, bestehend aus einem kleinen Vorzimmer, 1 Küche und 2 Zimmern, welche infolge Feuchtigkeit als unbewohnbar qualifiziert wurde. Diese Wohnung wurde sofort gemietet, im V. Bez. Zentagasse 6/3, wo wir noch heute sind.

Da wir aber damals nicht die nötigen Geldmittel zur Verfügung hatten, infolge der gehabten Inflation, hat die Bratislava-Versammlung durch Vermittlung Br. Butcher uns cKr. 500,-- geschenkt, so daß wir die Wohnung zu einem Versammlungsraum umbauen konnten. Durch anhaltendes Gebet und Bitte gab uns der HERR immer größere Räume, sobald es notwendig war. Denn wir haben auf der Straße und in Häusern Einladungen verteilt, welche Arbeit der HERR sehr gesegnet hat. Anfangs 1921 wurden in der Zentagasse wieder 14 Seelen getauft.

Im April 1921 übersiedelte Br. Fr. Simonischek samt Frau nach Jugoslavien in seine Heimat und hinterließ 45 getaufte $eelen und etliche ständige Besucher. Die im Glauben jungen Brüder setzten das Werk im Glauben und im Aufblick zum HERRN fort und der HERR bekannte sich zu dem schwachen Dienst. In den folgenden Jahren bekamen wir ziemlich viel Besuche aus verschiedenen Ländern: England, Deutschland, C. S. R., Schweiz und anderen Ländern. So die Brüder Butcher, Broadbent, Brinke, Warns, Humphrice, Eoll, Endress, Labudik, Heinz Köhler, Sauer, Kresina u. v. a., von welchen wir sehr viel Segen hatten. So wuchs die Zahl der Kinder Gottes auf über 100 Seelen an, wovon viele wieder schon beim HERRN sind, etliche übersiedelten in andere Länder.

Im Frühjahr 1921 warnte einmal der Pfarrer der nahe gelegenen Kirche seine kath. Kirchenbesucher von der Kanzel aus vor der Versammlung. Der Erfolg war, daß einige Kirchenbesucher aus Neugierde in die Versammlung kamen, um das Wort Gottes zu hören. Zwei Seelen von ihnen wurden Eigentum des HERRN. Als dann der Mann der einen Schwester sich über seine Frau nach einem Jahr bei dem Pfarrer beklagte, daß sie nur noch in die Zentagasse 6 in die Versammlung gehe, sagte ihm der Pfarrer: "Ach lassen Sie Ihre Frau nur hingehen, dort ist sie gut aufgehoben."

Der Großteil der ganzen Bevölkerung Österreichs gehört der kath. Kirche an. Die Arbeit unter ihnen ist sehr schwer, weil auf der einen Seite der kath. Heiligenkult sehr eingefleischt ist und andererseits die Bevölkerung besonders in Wien wie in allen Großstädten sehr gleichgültig ist. Von Seiten der kath. Kirche stießen wir auf keine nennenswerten Anfeindungen oder Schwierigkeiten. Bis zum Zweiten Weltkrieg war das Volk ziemlich zugänglich für das Wort Gottes. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Volk sehr leichtlebig und gleichgültig.

Außerdem kamen nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich viele Geschwister aus der C. S. R., welche dort ausgewiesen wurden. Im Laufe der Jahre hat es sich herausgestellt, daß wir in Wien auch noch in anderen Bezirken Versammlungen haben könnten. Der HERR schenkte Gnade, daß man im XVI. Bez. Dreyhausenstraße 1 mit einigen Nebenräumen einen entsprechenden Raum fand. Einen anderen Versammlungsraum fanden wir im XX. Bez. Sachsenplatz 8, der als Eigentum der Versammlung ist. Zu beiden Versammlungsräumen hat unser lieber heimgegangener Bruder James Lees sehr viel beigetragen.

Jedenfalls wären in Österreich noch einige Provinzen frei, wie Vorarlberg, Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Burgenland und ein Großteil von Tirol, wo noch sehr viel Platz wäre für Brüder, welche Missionsdienst betreiben wollen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1949 entstand in Graz eine kleine Gemeinde, in der ich das herrliche Vorrecht hatte, als erster das Evangelium zu verkündigen. Im Jahre 1949 besuchten schon diese kleine Gemeinde in Graz die Brüder Butcher und Eoll, welche die Seelen ermunterten dem HERRN treu nachzufolgen. Im Jahre 1950 kamen die Brüder Arnold und Samuel Pfeifer, beide Wiedenester Bibelschüler, und arbeiteten in Graz in der Ferienzeit, bis Dezember 1950. Es waren oft bis zu 30 Seelen in der Küche der Geschwister Schalk versammelt. Eine Sonntagschule mit 20-25 Kindern leitete die Schwester Ruth Blobelt als auch eine Jugendstunde mit ungefähr 15-20 Jugendlichen. Durch die Zeltmission entstanden auch in Knittelfeld, Zeltweg sowie in Kufstein in Tirol kleine Gemeinden. Die Freude der Gläubigen ist überall groß und der HERR tut zu den Gemeinden hinzu.

Möchte der HERR noch viele Fahrraddefekte oder vielleicht gar Autodefekte schenken, damit das Evangelium noch in viele Städte und Dörfer verkündigt werden könnte.

Benno Brandt
1040 Wien
Schlüsselgasse 5/9

Aus dem Nachlass von Papa
Von Schwester Ruth Heuschkel, geb. Brandt
(geb. 1920)
Manfred Karg
 
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Re: Die Entstehung der Wiener Versammlung

Beitragvon schneid9 am Mi 1. Apr 2015, 23:05

Der unlängst fertiggestellten Dissertation Die Evangelikale Bewegung in Österreich von Frank Hinkelmann ist zu entnehmen, dass der obige Aufsatz von Benno Brandt im Jahre 1965 offenbar auch gedruckt erschien (S. 549):

Brandt, Benno. „Entstehung der Wiener Brüder-Versammlungen“. Weckruf. 16 (1965) Nr. 4: S. 7–8.

Weckruf war nach Hinkelmann die "österreichische Zeitschrift der vom Missionshaus Bibelschule Wiedenest gegründeten Evangelisch-freikirchlichen Gemeinden (Christengemeinden)" (S. 33).

Auf S. 469-471 geht Hinkelmann übrigens auch kurz auf die "Salzburger Versammlungen" ein. In einer Fußnote wird sogar der Fall Lofer erwähnt (S. 471, Fn. 2297); allerdings scheint dem Autor entgangen zu sein, dass Lofers Verbindung mit den deutschen "geschlossenen Brüdern" schon 1999 wieder endete.
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