Evangelikale im Hessischen Hinterland

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Evangelikale im Hessischen Hinterland

Beitragvon Clemens A. Heidrich am So 16. Jun 2013, 18:48

An Pfingsten erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel zum obigen Thema. Da er online nicht zugänglich ist, zitiere ich hier mal den Abschnitt über die "geschlossenen Brüder":

Im Namen des Vaters und des Vaters

Eine Frau in Jeans ist des Teufels. Ein Mann hat seine Kinder zu züchtigen. Und das Ende ist nah. Zu Besuch bei den Evangelikalen im Hessischen Hinterland.

VON OLIVER REZEC

[...]

Die schmucklosen Häuschen würden kaum auffallen zwischen den anderen Wohnhäusern – wären da nicht die blickdichten Fenster und die große Eingangstür. In vielen Ortschaften des Hinterlandes steht ein solches Haus. Hier trifft sich die Versammlung. So werden sie am Ort einfach genannt, Versammlung. Sie wollen keinen Namen, denn das würde bedeuten, organisiert zu sein, und mit Organisation beginnt der Verfall von Kirche. Erst recht gibt es keinen Priester. Kein Vermittler stelle sich zwischen Gott und den Gläubigen, das ist ein Kern der Lehre der Brüdergemeinden – so nennen Außenstehende sie.

Donnerstagabend in Breidenstein, einem Dorf mit 1500 Einwohnern und einem alten Schloss, gleich hinterm Waldstreifen beginnt Nordrhein-Westfalen. Es ist kurz vor 20 Uhr, der Saal der Versammlung füllt sich zur Gebetsstunde mit Wortbetrachtung. Kein Altar, keine Orgel, an der Wand kein Kreuz, bloß eine Uhr. Ganz vorne ein Holztisch. Stühle mit grobem, braunem Stoffbezug, hundertfünfzig sind es ungefähr. Fast jeder zehnte Bewohner des Dorfs gehört zur Versammlung.

Aufs ganze Land gesehen mögen die Brüdergemeinden eine verschwindende Minderheit sein, 20 000 Gläubige bundesweit, vielleicht 40 000, man kann nur schätzen, eine Zählung wäre verwerfliche Organisiertheit. Im Hinterland aber, das lässt sich sagen, stellen sie neben den Freien evangelischen Gemeinden die größte Bewegung. Die Versammlung hier in Breidenstein ist Teil einer besonders konservativen Strömung innerhalb der Brüderbewegung, es sind „geschlossene Brüder“. Nicht, dass sich kein Fremder hinzusetzen dürfte: Jeder ist herzlich eingeladen, sagt das Schild draußen. Doch ein neues Gesicht fällt sofort auf. Und wenn die Geschlossenen das Brot brechen, haben Fremde keinen Zutritt. Nur ein Empfehlungsschreiben mit den Unterschriften der Brüder einer anderen Versammlung gewährt dann Einlass.

Die Zeiger rücken auf acht. Im Raum herrscht Schweigen. Eine unsichtbare Trennlinie durchteilt ihn: Die Frauen sitzen in den letzten Reihen. Jede von ihnen ist im Rock oder Kleid gekommen, alle tragen Kopftuch. Die Männer sitzen vorn beim Tisch, in den ersten Reihen die Alten im Anzug, dahinter die Jüngeren und Jugendlichen, legerer gekleidet. Da es keinen Ältesten gibt, darf kein Mensch die Gebetsstunde leiten. Der Heilige Geist hat die Leitung, denn wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte. So sitzen sie schweigend, versunken in der heimeligen Wärme, minutenlang. Bis zu jenem Moment, da der Heilige Geist jemandem etwas zu sagen eingibt. Einem der Männer. Die Frauen sollen schweigen in den Versammlungen, denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.

„Wir wollen beten“, sagt ein Alter in die Stille. Der ganze Saal erhebt sich, sie wenden sich um, knien nieder vor ihren Stühlen, die Ellbogen auf der Sitzfläche, die Augen geschlossen, viele pressen die Stirn in die Rückenlehne. Schweigen. Dann hebt einer an zu beten, dann der zweite, nach einer halben Stunde auf Knien sind es zehn, denen der Geist eingegeben hat zu sprechen von Dingen, die angenehm sind fürs Fleisch, aber der Seele schaden, von unserem Herrn Jesus, bitte segne die Traktate, lass all diese verkehrten Menschen in der Welt dich schauen, unser Herr Jesus, wir danken dir für das Baby, das du Jan und seiner Frau geschenkt hast, unser Herr Jesus, wir hoffen, dass keiner unter uns ist, der dich noch nicht erkannt hat. Amen. Sie betonen die hintere Silbe, Ameen, es klingt wie Armeen.

90 Minuten währen die Gebete, die immerfort variierten Versatzstücke, die Bibelversbetrachtung und der makellose zweistimmige Gesang der Gemeinde. Am Ende, wie auf ein stummes Zeichen, verlassen die Frauen den Saal. Erst dann folgen die Männer. Schon in der Garderobe entspinnt sich wieder fröhliches Geplauder zwischen den Geschlechtern, Händeschütteln, Glückwunsch dem frischgebackenen Großvater. Im Regal liegen jene Traktate, für die gerade Gottes Segen erbeten wurde. Einer der Jungs nimmt einen Stapel und steckt ihn ein.

Die Broschüren gehören zur Ausrüstung vieler evangelikaler Gruppen, denn der missionarische Auftrag ist den Bibeltreuen ernst. So klein sie sein mögen, so beharrlich versuchen sie sich sichtbar zu machen. Mit Schaukästen, mit Einladungen zu Hausgebetskreisen, mit Terminlisten für Bibelstunden. An der Bushaltestelle, von deren Rückwand heute Dortmunds Trainer Jürgen Klopp für die Volksbanken-Raiffeisenbanken grinst, hatte noch bis gestern der Christliche Plakatdienst e.V. drei Meter breit plakatiert: „Jesus Christus ist der Weg!“ Gleich daneben werben facebook-blaue Poster für „face.god“, die Jugend-Eventwoche in der Hinterlandhalle, „Musik, Message, Gott erleben“.

Auch der Alltag der gesellschaftlichen Mitte erscheint in diesem Landstrich religiöser geprägt als andernorts. Mag es auch bieder erscheinen, das ganze Vortragen und Einladen und Feiern – die missionarische Energie ist erheblich. Erst recht, wenn es darum geht, Kinder auf den Weg zu führen. Wer eine „Urkunde für das Auswendig-Lernen und fehlerfreie Aufsagen“ von Bibelsprüchen möchte, bekommt sie gleich drüben, bei der Christlichen Verlagsgesellschaft in Dillenburg. Nur ein paar Kilometer weiter betreibt der „Verbreitung der Heiligen Schrift e.V.“ eine Werkhalle am Rande des 4000-Einwohner-Städtchens Eibelshausen. Von hier aus versorgt der Verlag Eltern und Erzieher mit einem umfangreichen Programm an „Kindertraktaten“. Alles kostenlos, bundesweiter Versand, durch Spenden bezahlt.

[...]

Quelle: Süddeutsche Zeitung 114 (18.–20. Mai 2013), S. V2/4–5.
Clemens A. Heidrich
 
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Re: Evangelikale im Hessischen Hinterland

Beitragvon schneid9 am Fr 21. Jun 2013, 19:43

Interessanterweise kommen die "geschlossenen Brüder" in dem Artikel noch vergleichsweise glimpflich davon: Sie haben zwar skurrile Gebetsstunden und verteilen massenweise spendenfinanzierte Traktate, scheinen aber sonst harmlos zu sein. Viel härter trifft es die "Evangelisch Taufgesinnten" oder "Nazarener, wie sie landläufig genannt werden" und - erstaunlicherweise - die Freien evangelischen Gemeinden.

Bei der erstgenannten Gruppe handelt es sich offenbar um die nach dem Zweiten Weltkrieg von Heimatvertriebenen gegründete "Gemeinschaft Evangelisch Taufgesinnter e.V. (Nazarener)" in Breidenbach. Gemeindeältester Ernst Pfister, Vater von 14 Kindern, wird mit folgendem Zitat vorgeführt:

Elf der 14 Kinder sind ungetauft. Und die anderen? „Tja“, sagt der Vater, „Feuerpfuhl und Schwefel.“

Äußerungen wie diese sind für einen Journalisten natürlich ein gefundenes Fressen. Unweigerlich kommt dann auch das Thema körperliche Züchtigung zur Sprache:

„Das ist eine Sache, da muss ich Gott mehr gehorchen als der Obrigkeit“, sagt Pfister. „Ich meine nicht misshandeln, gelle. Züchtigen. Mit Maßen und vernünftig.“ [...] „Das ist ein gutes Erziehungsmittel“, besser als impulsive Backpfeifen. „Ganz gezielt, mit Maß.“ Sein ältester Sohn habe inzwischen selbst Kinder, aber der schlage sie nicht. Der andere Sohn wohl. „Die fünf Kinder, wie die spuren, das glauben Sie gar nicht! Wenn die jetzt reinkämen und ich setz die da hin – die sagen keinen Ton.“

Dieses Zitat empfand der Autor offenbar als so markant und entlarvend, dass er es als Schlusspointe ans Ende seines Artikels setzte.

Aus den FeGs kommt ein "Aussteiger" namens Frithjof Rompf zu Wort:

„Dein ganzes Leben lang wirst du gefüttert mit Gut und Böse und Sünde und Hölle und Tod und Teufel.“ Irgendwann braucht es dir keiner mehr zu sagen, „dann sagt dir das schon deine innere Stimme: Es ist falsch, was du machst.“ Oder auch nur denkst. In einem Alter, in dem man eh unsicher ist, was man denken soll. „Wenn ich so drüber rede, dann merk ich, dass es wieder anfängt, mich zu schütteln.“ Er hat lange nicht darüber geredet.

Die FeGs träten zwar liberaler und moderner auf als andere Evangelikale, aber:

das Programm ist aus seiner Sicht das gleiche wie bei allen Evangelikalen. Es werde nur subtiler verabreicht. Offener Zwang sei nicht nötig, wenn es mit Schuldgefühlen ebenso leicht geht. „Schau mal, was Jesus für dich gemacht hat. Der ist am Kreuz für dich gestorben. Und du willst am Sonntag nicht den Gemeinde-Parkplatz fegen? Junge!“ Mit jedem Widerwort wendet sich der Junge gleich gegen zwei Autoritäten: den Vater und den Vater. So erstickt das Aufbegehren von selbst, ohne Drohung.

Nicht fehlen darf natürlich das berühmt-berüchtigte Kinderlied

„Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Denn der Vater im Himmel schaut immer auf dich, denn der Vater im Himmel hat dich lieb“,

hier vom FeG-Aussteiger Rompf zitiert (übrigens in einer eigenartig milden Fassung - in der gängigen Version ist von der Liebe des Vaters gar nicht die Rede, sondern es wird noch einmal wiederholt: "Drum pass auf, kleines Auge, was du siehst!").

Sehr ausführlich wird zu Beginn der Fall einer gewissen Marion geschildert, die es mit 31 Jahren zum ersten Mal wagte, eine Hose anzuziehen, und seither in ihrem Dorf "nicht mehr willkommen" sei. Ihre gemeindliche Herkunft bleibt allerdings unklar; einige Indizien würden auf die "geschlossenen Brüder" passen (z.B. die "Macht" im Süden des Hinterlandes), aber dass Marion als Mädchen nicht aufs Gymnasium gehen durfte und nach ihrem "Ausstieg" jeden Kontakt zu ihrer Familie verlor, scheint eher dagegen zu sprechen. Auch einige Bibelstellen werden so falsch und "Brüder-untypisch" angewendet, dass man kaum an einen "Brüder"-Hintergrund glauben mag:

Die Frauen werden nicht arbeiten gehen oder gar studieren, wenn sie aber etwas lernen wollen, so sollen sie daheim ihre eigenen Männer fragen. [...]

Natürlich stellte der Vater sie zur Rede. Er sprach ein Machtwort, wie er es immer getan hatte, wie es seine Aufgabe ist, denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als seinen Leib erlöst hat. [...] Und ich verstehe ihn, sagt Marion. Ich bin ihm nicht böse. Denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst, sondern er nährt und pflegt es wie auch Christus die Gemeinde.

Die erste zitierte Stelle (1Kor 14,35) bezieht sich bekanntlich auf das Schweigen der Frauen in der Gemeinde, die beiden anderen (Eph 5,23.29) auf die Ehe. Dass sie derart aus dem Zusammenhang gerissen bzw. verallgemeinert würden, ist mir in "Brüderkreisen" noch nicht begegnet.

Am verzerrtesten dürften sich insgesamt die FeGs dargestellt finden - ein separater Infotext über "Evangelikale" erweckt sogar den Eindruck, als ginge es im Artikel nur oder hauptsächlich um sie ("Die hier porträtierten Freien evangelischen Gemeinden"), obwohl erst im letzten Viertel näher auf sie eingegangen wird. Alles in allem aber nichts Neues unter der Sonne: die übliche undifferenzierte und verständnislose Recherche, das übliche Herausgreifen extremer Einzelfälle, die übliche emotionale Stimmungsmache - so wie man es von der Berichterstattung über Evangelikale in deutschen Medien gewohnt ist.
Michael Schneider
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