Im Namen des Vaters und des Vaters
Eine Frau in Jeans ist des Teufels. Ein Mann hat seine Kinder zu züchtigen. Und das Ende ist nah. Zu Besuch bei den Evangelikalen im Hessischen Hinterland.
VON OLIVER REZEC
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Die schmucklosen Häuschen würden kaum auffallen zwischen den anderen Wohnhäusern – wären da nicht die blickdichten Fenster und die große Eingangstür. In vielen Ortschaften des Hinterlandes steht ein solches Haus. Hier trifft sich die Versammlung. So werden sie am Ort einfach genannt, Versammlung. Sie wollen keinen Namen, denn das würde bedeuten, organisiert zu sein, und mit Organisation beginnt der Verfall von Kirche. Erst recht gibt es keinen Priester. Kein Vermittler stelle sich zwischen Gott und den Gläubigen, das ist ein Kern der Lehre der Brüdergemeinden – so nennen Außenstehende sie.
Donnerstagabend in Breidenstein, einem Dorf mit 1500 Einwohnern und einem alten Schloss, gleich hinterm Waldstreifen beginnt Nordrhein-Westfalen. Es ist kurz vor 20 Uhr, der Saal der Versammlung füllt sich zur Gebetsstunde mit Wortbetrachtung. Kein Altar, keine Orgel, an der Wand kein Kreuz, bloß eine Uhr. Ganz vorne ein Holztisch. Stühle mit grobem, braunem Stoffbezug, hundertfünfzig sind es ungefähr. Fast jeder zehnte Bewohner des Dorfs gehört zur Versammlung.
Aufs ganze Land gesehen mögen die Brüdergemeinden eine verschwindende Minderheit sein, 20 000 Gläubige bundesweit, vielleicht 40 000, man kann nur schätzen, eine Zählung wäre verwerfliche Organisiertheit. Im Hinterland aber, das lässt sich sagen, stellen sie neben den Freien evangelischen Gemeinden die größte Bewegung. Die Versammlung hier in Breidenstein ist Teil einer besonders konservativen Strömung innerhalb der Brüderbewegung, es sind „geschlossene Brüder“. Nicht, dass sich kein Fremder hinzusetzen dürfte: Jeder ist herzlich eingeladen, sagt das Schild draußen. Doch ein neues Gesicht fällt sofort auf. Und wenn die Geschlossenen das Brot brechen, haben Fremde keinen Zutritt. Nur ein Empfehlungsschreiben mit den Unterschriften der Brüder einer anderen Versammlung gewährt dann Einlass.
Die Zeiger rücken auf acht. Im Raum herrscht Schweigen. Eine unsichtbare Trennlinie durchteilt ihn: Die Frauen sitzen in den letzten Reihen. Jede von ihnen ist im Rock oder Kleid gekommen, alle tragen Kopftuch. Die Männer sitzen vorn beim Tisch, in den ersten Reihen die Alten im Anzug, dahinter die Jüngeren und Jugendlichen, legerer gekleidet. Da es keinen Ältesten gibt, darf kein Mensch die Gebetsstunde leiten. Der Heilige Geist hat die Leitung, denn wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte. So sitzen sie schweigend, versunken in der heimeligen Wärme, minutenlang. Bis zu jenem Moment, da der Heilige Geist jemandem etwas zu sagen eingibt. Einem der Männer. Die Frauen sollen schweigen in den Versammlungen, denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.
„Wir wollen beten“, sagt ein Alter in die Stille. Der ganze Saal erhebt sich, sie wenden sich um, knien nieder vor ihren Stühlen, die Ellbogen auf der Sitzfläche, die Augen geschlossen, viele pressen die Stirn in die Rückenlehne. Schweigen. Dann hebt einer an zu beten, dann der zweite, nach einer halben Stunde auf Knien sind es zehn, denen der Geist eingegeben hat zu sprechen von Dingen, die angenehm sind fürs Fleisch, aber der Seele schaden, von unserem Herrn Jesus, bitte segne die Traktate, lass all diese verkehrten Menschen in der Welt dich schauen, unser Herr Jesus, wir danken dir für das Baby, das du Jan und seiner Frau geschenkt hast, unser Herr Jesus, wir hoffen, dass keiner unter uns ist, der dich noch nicht erkannt hat. Amen. Sie betonen die hintere Silbe, Ameen, es klingt wie Armeen.
90 Minuten währen die Gebete, die immerfort variierten Versatzstücke, die Bibelversbetrachtung und der makellose zweistimmige Gesang der Gemeinde. Am Ende, wie auf ein stummes Zeichen, verlassen die Frauen den Saal. Erst dann folgen die Männer. Schon in der Garderobe entspinnt sich wieder fröhliches Geplauder zwischen den Geschlechtern, Händeschütteln, Glückwunsch dem frischgebackenen Großvater. Im Regal liegen jene Traktate, für die gerade Gottes Segen erbeten wurde. Einer der Jungs nimmt einen Stapel und steckt ihn ein.
Die Broschüren gehören zur Ausrüstung vieler evangelikaler Gruppen, denn der missionarische Auftrag ist den Bibeltreuen ernst. So klein sie sein mögen, so beharrlich versuchen sie sich sichtbar zu machen. Mit Schaukästen, mit Einladungen zu Hausgebetskreisen, mit Terminlisten für Bibelstunden. An der Bushaltestelle, von deren Rückwand heute Dortmunds Trainer Jürgen Klopp für die Volksbanken-Raiffeisenbanken grinst, hatte noch bis gestern der Christliche Plakatdienst e.V. drei Meter breit plakatiert: „Jesus Christus ist der Weg!“ Gleich daneben werben facebook-blaue Poster für „face.god“, die Jugend-Eventwoche in der Hinterlandhalle, „Musik, Message, Gott erleben“.
Auch der Alltag der gesellschaftlichen Mitte erscheint in diesem Landstrich religiöser geprägt als andernorts. Mag es auch bieder erscheinen, das ganze Vortragen und Einladen und Feiern – die missionarische Energie ist erheblich. Erst recht, wenn es darum geht, Kinder auf den Weg zu führen. Wer eine „Urkunde für das Auswendig-Lernen und fehlerfreie Aufsagen“ von Bibelsprüchen möchte, bekommt sie gleich drüben, bei der Christlichen Verlagsgesellschaft in Dillenburg. Nur ein paar Kilometer weiter betreibt der „Verbreitung der Heiligen Schrift e.V.“ eine Werkhalle am Rande des 4000-Einwohner-Städtchens Eibelshausen. Von hier aus versorgt der Verlag Eltern und Erzieher mit einem umfangreichen Programm an „Kindertraktaten“. Alles kostenlos, bundesweiter Versand, durch Spenden bezahlt.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung 114 (18.–20. Mai 2013), S. V2/4–5.