Re: Wir ganz allein sind's ...
Verfasst: So 29. Jan 2012, 00:44
ExAVler hat geschrieben:Wahrscheinlich kann AVler es aber doch noch besser. Ich freue mich schon auf ein Gedicht von ihm. Wer ein solches Werk als grottenschlecht bezeichnet weckt sehr hohe Erwartungen.
Ich bin immer wieder erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird, Kritik dürfte nur der üben, der es selbst besser kann. "Ich finde meine Suppe versalzen: darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen kann?", fragte Lessing in seiner Schrift "Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt". Wäre die Kritik von "avler" wirklich überzeugender, wenn er hinzufügen würde: "Meine eigenen Gedichte sind viel besser, und das werde ich euch mit den folgenden Beispielen beweisen"? Ich jedenfalls würde ein solches Auftreten reichlich eitel und angeberisch finden.
So viel zum Grundsätzlichen. In der Sache selbst muss ich "avler" natürlich trotzdem widersprechen, denn mit dem, was in der AV an Dichtkunst gängig ist, kann sich das Gedicht "Wir ganz allein sind's" allemal messen. Um das festzustellen, braucht man sich nur mal ein paar Gedichte des führenden deutschen AV-Dichters P.W. anzuschauen. Diese Gedichte sind sicher alle gut gemeint und ehrlich empfunden, aber sowohl inhaltlich als auch sprachlich-formal von einer solchen Konventionalität und Unoriginalität, dass man sich fragt, warum dafür überhaupt die Gedichtform bemüht wurde. Ich zitiere mal ein Beispiel aus Reiche Frucht. Geistliche Gedichte (CSV 1990, S. 75):
Deine Güte
Mit fröhlichem Gemüte
bring ich Dir Dank und Preis,
da ich um Deine Güte,
mein Gott und Vater, weiß.
In all den Lebensjahren,
die ich zurückgelegt,
hab' ich sie stets erfahren,
daß es mein Herz bewegt.
Nun schenkst Du mir auch heute
Beweise Deiner Treu',
damit mein Herz voll Freude
und Dir recht dankbar sei.
So will ich ferner zählen,
mein Gott, auf Deine Gnad'
und Dir mich anbefehlen
für meinen Lebenspfad.
Wie gesagt: Das ist sicher alles aufrichtig empfunden, aber ich finde in dem Gedicht keinen einzigen originellen, eigenständigen Gedanken und keine einzige Formulierung, die man so oder ähnlich nicht schon tausendmal gehört hätte. Es fehlt also genau das, was ein Gedicht zu einem individuellen schöpferischen Kunstwerk machen würde. Warum dann aber die Gedichtform? Im Vorwort des zitierten Buches schreibt P.W. (S. 5):
Es macht mir immer wieder Freude, Empfindungen meiner Seele in Worte zu kleiden. Meine Liebe zu sprachlichem Rhythmus und Reim läßt mich dabei die Form des Gedichts wählen.
Es geht hier also nicht um Kunst, sondern im Grunde um eine bloße formale Spielerei. Dass "die Möglichkeiten der Wortwahl" durch "Versmaß und Wohlklang" eingeschränkt werden (ebd.), stellt für den Autor dabei sicher noch eine besondere Herausforderung dar. Er löst dieses Problem durch Archaismen ("Gemüte"), Füllwörter ("recht"), sprachliche Missgriffe (nur in der schweizerischen Behördensprache werden "Lebensjahre ... zurückgelegt") und vor allem durch abgegriffene Phrasen und Redewendungen ("Mit fröhlichem Gemüte", "Dank und Preis", "mein Herz bewegt", "Herz voll Freude", "für meinen Lebenspfad"). Ich frage mich: Wer braucht ein solches Gedicht? Hätte der Autor die "Empfindungen seiner Seele" nicht vielleicht besser und origineller in Prosa ausdrücken können?
Ähnliches könnte man von fast allen AV-Gedichten sagen. Auch Erich Bonsels scheute sich nicht, in seinen Gedichten die abgedroschensten AV-Vokabeln zu verwenden (Beispiel aus Alles ist Gnade, VdHS/CSV 2004, S. 38):
zu wandeln auf dem schmalen Pfad,
das ists, was ich begehr.
Von den Reimereien eines Paul Benner möchte ich hier gar nicht reden:
Finstre Stunde, dunkle Mächte
toben um des Berges Kamm.
Dort stirbt Jesus, der Gerechte,
Er, der Held aus Judas Stamm.
(Immerhin konnte er der Versuchung widerstehen, "Stamm" auf "Gottes Lamm" zu reimen ...)
Ich habe in all den Jahren, in denen ich der AV angehörte, nur ein einziges Gedicht gelesen, das einen gewissen Anspruch auf literarische Qualität erheben konnte. Es war am 9. März 1996 im Kalender Der Herr ist nahe abgedruckt (eine kürzere, an einigen Stellen abweichende Fassung erschien allerdings bereits in Die Tenne 4 (1926), S. 305):
Unfaßlich
Sooft ich auch, o Herr, mir vorgestellt,
was Du an bittern Leiden hast erlitten,
als Du, verworfen von der Welt,
den großen Streit am Kreuze hast gestritten –
unfaßlich blieb mir Deine Qual. – Und doch,
weit unbegreiflicher ist mir geblieben,
daß Du, Herr, die Dich eben noch
so tief verwundet, also konntest lieben.
Und selbst, als Gott sich dann von Dir gewandt,
dort, als Du littest um der Sünde willen,
da hob sich höhnend ihre Hand,
und niemand war, um Deinen Schmerz zu stillen.
Ich habe, Herr, nicht minder Dich betrübt,
und heut noch ist mein Herz oft kalt geblieben;
doch Du hast immer nur geliebt:
unfaßlich bleibt mir, Herr, Dein treues Lieben.
Auch dieses Gedicht ist nicht ganz frei von Phrasen ("bittern Leiden") und Füllwörtern bzw. -silben ("also" statt "so", "dort"), aber insgesamt finde ich es bemerkenswert eigenständig und wirklich berührend. Schade, dass der Verfasser nicht angegeben war!
Was nun HRKs Gedicht "Wir ganz allein sind's" betrifft, so wird er damit sicher nicht den Literaturnobelpreis gewinnen, aber es trifft inhaltlich doch unbestreitbar einen wunden Punkt und ist sprachlich über weite Strecken originell (wenn auch überspitzt formuliert, denn natürlich redet in der AV niemand wirklich so). Etwas fragwürdig finde ich nur die Aussage in der ersten "Gegenstrophe":
Wie haben wir vergessen Sein Erbarmen,
dass Er uns einst den rechten Weg gezeigt!
Heißt das nicht im Grunde doch, dass die "Brüder" (allein) ursprünglich "den rechten Weg" gingen?