Christian O. hat geschrieben:Und ich stelle mal anhand einiger Beispiele von Ergebnissen dieses Ringens aus meiner Heimatgemeinde die Frage, ob die Foristen uns noch als "Brüdergemeinde" betrachten würden
:
Ich hatte hier ja vor einiger Zeit mal einen Vorschlag für einen
Merkmalskatalog gemacht. Von meinen 12 Merkmalen einer Brüdergemeinde erscheinen mir bei euch
— Merkmale 1, 2, 3, 6, 8, 9 erfüllt
— Merkmal 7 teilweise erfüllt
— Merkmal 4 nicht erfüllt
— Merkmale 5, 10, 11, 12 unklar
Das ist eine Trefferquote von mindestens 54 %, also seid ihr eine Brüdergemeinde
Natürlich kann man die Merkmale auch gewichten. Ich habe gestern wieder mal einiges aus der Frühzeit der Brüderbewegung (um 1840) gelesen und festgestellt, dass damals “open ministry” (entspricht meinem Merkmal 4) als das entscheidende Kriterium angesehen wurde, auch von Außenstehenden und Besuchern. Genau dieses Merkmal fehlt bei euch ... Um es also mit MacDonald und Gibson auszudrücken (inzwischen auch
auf Deutsch verfügbar): »Wenn die ersten „Brüder“ [eure] Gemeinde besuchen könnten, ist es sehr fraglich, ob sie viel Ähnlichkeit mit dem finden würden, was sie einst als neutestamentliche Gemeindeprinzipien betrachteten« ...
Ich gehe noch kurz auf deine einzelnen Punkte ein:
Christian O. hat geschrieben:* wir feiern an einem Sonntag im Monat kein Abendmahl, weil wir dort einen besonderen Gottesdienst für Besucher haben.
Interessant. Dass das wöchentliche Brotbrechen ein Problem für Besucher sein könnte, ist mir erst durch die Veröffentlichungen englischer »Neo-Brüder« (v.a. Neil Summerton) richtig bewusst geworden. In England löst man das offenbar so, dass man das Brotbrechen
abends abhält (aber sicher nicht wöchentlich, denn wer will schon jeden Sonntagabend nochmal zur Gemeinde gehen/fahren?). Auch für mich hängt die Identität einer Brüdergemeinde nicht am wöchentlichen Brotbrechen — das kann im Gegenteil sehr schnell zum sinnentleerten Ritual werden, insbesondere wenn dabei immer dieselben Lieder gesungen und immer dieselben Schriftstellen gelesen werden.
Christian O. hat geschrieben:* Anbetungsstunde und Verkündigung haben wir in einen Gottesdienst zusammengelegt
... der dann vermutlich weniger als zwei Stunden dauert?
Christian O. hat geschrieben:* es gibt einen Predigtplan (Themen & Personen), den Predigtdienst versehen die Brüder die dafür begabt sind.
Das ist ja in vielen Brüdergemeinden (auch bei uns) immer noch ein Tabu, hat aber m.E. Vorteile und ist auch nicht unbiblisch: Auf der einen Seite werden dadurch Brüder, die sich gern selbst reden hören, im Zaum gehalten, auf der anderen Seite wird Brüdern, die sich ohne diese klare Struktur nicht trauen würden, der Dienst erleichtert. Über die größere Themenvielfalt haben wir ja schon gesprochen.
Christian O. hat geschrieben:* die Lobpreiszeit ist geleitet und strukturiert, es gibt Möglichkeiten zur Beteiligung z.B. in Gebetsgemeinschaften (auch für Frauen)
Darüber könnte man diskutieren. Wann und wie finden diese Gebetsgemeinschaften denn statt?
Christian O. hat geschrieben:* wir haben benannte Älteste
Dagegen habe ich grundsätzlich nichts, sehe aber auch nicht unbedingt die Notwendigkeit.
Christian O. hat geschrieben:* wir haben viele dispensationalistische Lehrinhalte hinterfragt und aufgegeben, wir vertreten nicht die Lehre des Cessationismus
Hier wird es für mich schon kritischer, denn den Dispensationalismus halte ich für das wertvollste theologische Erbe der Brüderbewegung. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen (1) einer dispensationalistischen Gemeinde, die einen Pastor hat und nur einmal pro Vierteljahr Abendmahl feiert, und (2) einer nichtdispensationalistischen Gemeinde, in der alle dazu begabten Brüder predigen können und jede Woche Abendmahl gefeiert wird, würde ich mich ohne Zögern für (1) entscheiden ...
Aber man muss natürlich definieren, was genau man unter Dispensationalismus versteht. Viele Dispensationalisten (auch und gerade in der AV) meinen ja ganz naiv, dass sie einfach nur die »Lehre der Bibel« oder die »Wahrheit der Schrift« vertreten, und merken gar nicht, dass sie in Wirklichkeit einer elaborierten theologischen Theorie anhängen, zu der es unter sog. bibeltreuen Christen durchaus Alternativen gibt. Ich plädiere deshalb immer für einen »aufgeklärten Dispensationalismus«: Ja zu den dispensationalistischen Grundannahmen, aber nicht, weil sie mit der »Wahrheit der Bibel« identisch wären, sondern weil sie die Vielfalt biblischer Einzelaussagen überzeugender und eleganter miteinander in Einklang bringen und scheinbare Widersprüche besser auflösen als andere Theorien.
Als Zentrum des Dispensationalismus sehe ich übrigens nicht Darbys Verfallslehre (die im akademischen Dispensationalismus kaum noch vertreten wird) oder die Annahme von genau sieben Haushaltungen (schon Darby kam — je nach Definition und Zählung — auf
fünf oder neun), sondern die Unterscheidung zwischen Israel und der Gemeinde mit ihren soteriologischen, ethischen und eschatologischen Konsequenzen (z.B. Verhältnis von Gesetz und Gnade, Gültigkeit bestimmter Bibelteile für Christen, Zeitpunkt der Entrückung). Was den Cessationismus betrifft, so ist auch er m.E. kein notwendiger Bestandteil des Dispensationalismus, aber die Frage ist natürlich, was Nichtcessationismus in der Praxis konkret bedeutet. Wird in euren Gottesdiensten »in Zungen geredet«?
Christian O. hat geschrieben:* wir haben uns bisher erfolgreich aller Vereinnahmungsversuche seitens der verschiedenen Strömungen in der Brüderbewegung erwehrt
Das ist einerseits verständlich (und für »blockfreie« Gemeinden typisch), andererseits aber vielleicht auch eine Überreaktion auf den allzu engen Zusammenhalt in der AV. Eine völlig auf sich selbst gestellte Gemeinde hat es erfahrungsgemäß schwerer, ihr Profil zu bewahren, besonders wenn viele anders geprägte Christen dazukommen.
Christian O. hat geschrieben:* wir pflegen gerne Gemeinschaft mit verschiedensten evangelikalen Gruppierungen
Wie sieht das genau aus? Besucht ihr euch gegenseitig? Macht ihr gemeinsame Veranstaltungen?